Am Sonntag, den 21.3.2021, ist in Krakau der polnische Dichter Adam Zagajewski gestorben … Nein, in Krakau verstarb am Sonntag nach kurzer schwerer Krankheit Adam Zagajewski, der letzte in der Reihe bedeutender polnischer Dichter wie Czesław Milłosz, Zbigniew Herbert, Wisława Szymborska, Tadeusz Rozewicz oder Ryszard Krynicki, um nur die bei uns bekanntesten zu nennen … Oder doch besser so: Am Sonntag verstarb mein lieber Freund Adam Zagajewski in einem Krankenhaus in Krakau, ein unersetzlicher Verlust. Mit einem Klick kann ich mir seine Mails der letzten Wochen auf den Bildschirm zaubern, witzige, ironische, immer auch in Melancholie getauchte Botschaften eines Dichters und glänzenden Essayisten, eines skeptischen Philosophen ohne Lehrstuhl, eines enthusiastisch aufbrechenden Reisenden, der oftmals mit einem Seufzer zugeben musste, nicht mehr das gefunden zu haben, was er sich erhofft hatte; eines unermüdlichen Lesers, der gerade noch in einem großen bewundernden Aufsatz für Sinn und Form seinen Freund Joseph Brodsky porträtiert hat; eines vielsprachigen, in vielen Sprachen sich wohl fühlenden Intellektuellen, der über die rechtskonservative Entwicklung in seinem Land nur den Kopf schütteln konnte, wie er überhaupt in letzter Zeit manchmal den Eindruck machte, er käme aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.
Adam Zagajewskis Leben begann mit einer Vertreibung. Er kam im Juni 1947 in Lemberg zur Welt, das mit seiner mitteleuropäischen k.u.k.-Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg der Ukraine zugeschlagen wurde; seine Familie wurde nach Polen „umgesiedelt“, genauer: in das ehemalige oberschlesische Gleiwitz, jetzt Gliwice, in dem sechs Jahre zuvor der Krieg begann. Einen größeren kulturellen Kontrast kann man sich nicht vorstellen. Hier das von vielen Nationalitäten und Konfessionen belebte und von einer großen und anspruchsvollen (dann fast vollständig ermordeten) jüdischen Bevölkerung aus allen Nähten platzende Lemberg, das gerne das galizische Florenz genannt wurde, dort das von der Kohle geprägte preußische Gleiwitz. Er studierte Philosophie und Psychologie in Krakau, seine ersten Gedichte erschienen Anfang der siebziger Jahre – ihr „adamitischer“ Grundton ist schon spürbar, aber sie sind noch viel explizit „politischer“ oder gesellschaftskritischer als das sich dann entwickelnde Werk. 1975 begann für seine Generation (und für ganz Europa) die entscheidende Auseinandersetzung. Der dreißigjährige Adam war Mitunterzeichner einer Resolution gegen die Regierung, die mit einer Verfassungsänderung die führende Rolle der Kommunistischen Partei in der Volksrepublik festschreiben wollte. Die unmittelbare Folge für den Bürger Zagajewski war: Berufsverbot – seine Bücher durften in Polen nicht mehr erscheinen. Als dann General Jaruzelski das Kriegsrecht für Polen ausrief und die auch von Adam Zagajewski unterstützte Solidarność-Bewegung beseitigen wollte, war es für ihn zu viel: Er verließ das Land, in das er erst um das Jahr 2000 wieder zurückkehrte.
Seine erste Station war Berlin, hier begann auch unsere Freundschaft. Adam war frei und konnte ausprobieren, in welche Richtung er sein Talent entwickeln wollte. Er schrieb neben Gedichten zwei Romane, von denen einer, der Künstlerroman Der dünne Strich, eine gewisse Beachtung fand – aber leben konnte er davon nicht. Er zog nach Paris, das traditionellerweise ein Mittelpunkt der polnischen Emigration war, wo der Maler und Essayist Józef Czapski, (einer der wenigen überlebenden polnischen Offiziere in den sowjetischen Lagern) die Zeitschrift Kultura herausgab, in der alles, was Rang und Namen in der polnischen Republik des Geistes hatte, publizierte und wo man sich in der polnischen Buchhandlung auf dem Boulevard St. Germain treffen konnte – Adam, der damals auch seine Freundschaft mit dem ebenfalls unter erbärmlichen Bedingungen in Paris lebenden Zbigniew Herbert begann, hat einen bewegenden Aufsatz über Czapski geschrieben, in dem die vielen widersprüchlichen Kräfte des polnischen Exils zur Sprache kommen. Über den in Berkeley lebenden und lehrenden Czesław Miłosz kam Adam nach Amerika – wie so viele Emigranten vor ihm, Arbeiter und Intellektuelle. (Henryk Sienkiewicz, der Autor von Quo vadis, ist wohl der berühmteste „Fall“: Er wollte in Kalifornien eine Kommune gründen, wie man in Susan Sontags Roman America nachlesen kann, gab aber bald auf und kehrte wieder zurück; Nobelpreis 1905 – wie später Miłosz und Szymborska –, Tod in Vevey in der Schweiz). Adam lehrte in Houston. Als wir ihn dort besuchten, wollte er uns unbedingt eine bestimmte Stelle am Golf von Mexiko zeigen, weil wir dann erst Amerika verstehen würden – und weil wir dort Delphine sehen würden. Nach einer langen Fahrt durch dicken Nebel kamen wir an einen unwirtlichen Ort am Strand, an dem ein einziger Baum stand, in dem sich ein findiger Mensch eine Baumhausbar eingerichtet hatte, Name: World's End. Von Delphinen war nichts zu sehen gewesen. Später, zurück in Houston, gingen wir in ein Konzert: Schubert. Zwischen World's End und Schubert hatte er sich ein Leben eingerichtet. Einige Jahre danach wurde er nach Chicago berufen, wo er nur jedes zweite Semester lehren musste und wo ihn die große polnischstämmige Bevölkerung faszinierte. Aber er wollte unbedingt zurück, und als der alte Czesław Miłosz, nach Jahrzehnten des Exils, zurück nach Krakau zog, wurde Adam von allen seinen Freunden bestürmt, ihm zu folgen. So lebte er seit 2002 mit seiner Frau Kaja, einer Psychoanalytikerin, und einer schwarzen Katze in Krakau.
Zu meinem Geburtstag im Dezember schrieb er mir, per E-Mail (ein gutes Beispiel, dass man auch mit E-Mails Wärme erzeugen kann): »Heute denke ich nur an Dich – mit Freundschaft, Wärme, Bewunderung. Du hast mir Deine Freundschaft sehr früh erteilt, noch in den chaotischen (für mich) 80er Jahren. Dann sagtest Du zu mir, Adam, Du sollst doch zurück nach Krakau gehen. Und Du hattest recht (wir konnten nicht ahnen, wozu die Warschauer Politiker fähig sind).«
Am Sonntag kam dann um 20.04 Uhr die furchtbare Mail von Ryszard Krynicki, die mit dem entsetzlichen Satz endete: »Ich fürchte, die furchtbarste Nachricht kann in jedem Moment kommen.«
Zehn Minuten später war dieser großartige Dichter tot.
Michael Krüger
Amsel
Auf der Fernsehantenne saß eine Amsel
Und sang eine weiche Jazzmelodie.
Nimmst du Abschied? Von wem? – fragte ich. – Was beweinst du?
Ich nehme Abschied von denen, die uns verlassen haben, sagte die Amsel,
Abschied vom Tag (den Augen und den Wimpern dieses Tages),
ich beweine ein Mädchen, welches in Thrazien lebte
– du konntest sie nicht kennen.
Die Weide tut mir leid, der Frost wird sie töten.
Ich weine, weil alles vergeht, sich verändert
und wiederkehrt, doch nie in der gleichen Gestalt.
Trauer, Verzweiflung, Freude und Stolz
über die radikale Metamorphose
haben kaum Platz in meiner schwarzen Kehle.
Der Trauerzug zieht an mir vorbei
jeden Abend auf gleiche Art, ja dort, am Faden des Horizonts.
Alle gehen dorthin, ich sehe alle und nehme von ihnen Abschied.
Ich sehe Säbel und Hüte, Tücher, nackte Füße,
Kanonen, Blut und Tinte. Sie gehen langsam
und verschwinden im Flußnebel, am rechten Ufer.
Ich nehme Abschied von ihnen und von dir und vom Licht,
und dann grüße ich die Nacht, denn ich diene der Nacht,
den schwarzen Seiden, den schwarzen Mächten.
Adam Zagajewski, Amsel
Aus: Mystik für Anfänger. Gedichte, Hanser Verlag, 1997
Übersetzer: Karl Dedecius