Zwölf Bände mit Gedichten von Alfred Kolleritsch stehen hinter mir im Regal (neben drei wunderbaren Romanen und der meisterhaften Erzählung »Der letzte Österreicher« über einen alten Maler, der in Venedig den Tod sucht oder findet und schließlich erfährt), dicht bedrängt von Heften der Literaturzeitschrift »manuskripte«, die Alfred Kolleritsch über fünfzig Jahren herausgegeben hat, ein merkwürdiges und eigenwilliges Archiv der Geschichte der Literatur, wie wir sie erlebt und gelesen haben, das mit keinem anderen Archiv übereinstimmt, weil es »Gegenwege« vorschlägt und einschlägt, Waldwege, Nebenstraßen, Sackgassen – ja, auch diese, weil es ohne sie gar keine Literatur gäbe; und natürlich Holzwege (Kolleritsch hatte nach einem Studium der Philologie und der Philosophie über Heidegger promoviert). Aber auch nach dieser gewaltigen Arbeit war Alfred Kolleritsch nicht zum Archivdirektor geworden, trotz der vielen Orden und Auszeichnungen und Ehrungen, die man ihm angetan hat. Er war immer der ungewöhnliche Dichter geblieben, eine einzelgängerische Natur ohne Schule, Klasse, Gruppe oder Vereinigung, obwohl er Schulen, Klassen, Gruppen und Vereinigungen angehörte.
Und hinter, unter, neben und über dieser Reihe von Büchern (zu denen noch ein Briefwechsel mit seinem »dicken« Freund Peter Handke gehört) liegen, stehen und schweben die Erinnerungen an Treffen in Graz zum Steirischen Herbst, in München, Frankreich und Italien, wenn wir uns zur Jurysitzung des Petrarca-Preises (bei Hubert Burda am Siegestor) oder zu den Verleihungen trafen: Seit er selber 1978 den Petrarca-Preis erhielt (damals waren, neben Bazon Brock, Peter Handke und mir noch Nicolas Born und Urs Widmer in der Jury), war er immer mit »von der Partie«, ein verlässlicher Freund, der bei fast allen Treffen neue Gedichte vorlas. Auf diese Weise habe ich mir ein Archiv seiner Stimme angelegt, das ich mir jederzeit vorspielen kann – was ich übrigens ziemlich häufig tue. Seine Stimme gehört für mich ebenso zu seinen Gedichten wie deren spezifischer Ton, der in unserer Generation einzigartig ist. Es ist ein trotz aller Brechungen, Brüche, Abgründe und Trennungen gleichmäßiger Ton, der scheinbar mühelos philosophische Einsichten, Naturerfahrungen, Liebesanrufungen und Zeitgenössisches aufnehmen kann, ein trotz aller poetischen Sprache nachdenklicher Ton, eine Reflexion über Zeit und Tod, die weder das Sprachspiel noch den Reim noch irgendwelche Tricks braucht, um sich vor unseren Augen und Ohren zu entfalten. Oder um es mit Hans Blumenberg nach Paul Valery zu sagen: »Der Gedanke muss im Gedicht verborgen sein wie der Nährwert in der Frucht, die zwar nahrhaft ist, aber nur in ihrem Genusswert sich anbietet, so dass man mit Vergnügen empfindet, während man doch Substanz zu sich nimmt.« Und ich selber habe einmal geschrieben (1989): »Das eindringlichste Merkmal der Gedichte von Alfred Kolleritsch ist ihre Melodie, die einem noch vor allem inhaltlichen Verstehen gewissermaßen vorsingt, wie man zu lesen habe; sie ist so glücklich gesetzt, dass es schwerfällt, gegen den Strich zu lesen, und wer es dennoch versucht, um eine andere Lesart zu probieren und damit einen anderen Sinn zu finden, der fühlt sich bald wieder einschwenken: die melancholische Schönheit der Gedichte ist nur zu ergründen (und zu genießen) durch den Nachvollzug ihrer sprachlichen Bewegung, die sie erst ganz erschließt. Dabei ist diese spezifische Melodie alles andere als einfach … vor allem wegen ihrer Weigerung, auf eine Pointe, auf eine fest umrissene Aussage als Ergebnis zuzusteuern; die steckt eher in den Motti, die seinen Gedichten voranstehen, das erste lautet: ›Die Welt wird keine Sieger mehr sehen.‹ Wer nun aber denkt, hinter diesem Zitatschild würde das einfache Spiel der Verlierer gespielt, die larmoyante Klage, das resignierte Seufzen, das Spiel einer Kunst mithin, die sich schon aufgegeben hat und nur in Ermangelung von Widerstand ihre alten Rituale weiter ausbeutet, der hat sich gründlich geirrt. Der philosophische Dichter Alfred Kolleritsch kennt die tautologischen Fallen einer solchen Poesie zu gut, um sich in ihnen zu verfangen; also macht er Umwege, begeht und vermisst die Welt noch einmal, sieht sich die Dinge an und prüft die Wahrnehmungen, bevor er Urteile fällt. […] Auch Kolleritsch gehört zu denen, die die krisenhafte Unentschiedenheit der Zeit nicht einfach und restlos umschmelzen können in ein einzelnes Gedicht. Vielmehr scheinen mir alle Gedichte zusammenzugehören zu einem langen monologischen Gesang über Zeit und Existenz, in dem es Brüche, Unterbrechungen, Einsprüche und Neuansätze geben muss, um die Schwierigkeiten dieses poetischen Projekts zuallererst sichtbar zu machen. Hier ist eher der Mut herauszustellen, das Ganze, das es nicht gibt, noch einmal poetisch nachzudenken, also auch der Mut, zu scheitern. Aus dieser unakademischen philosophischen Haltung heraus erwächst der Poesie Alfred Kolleritschs eine Spannung, die diese Gedichte schöner und aufregender macht als viele andere gegenwärtige Gedichte.«
Alfred Kolleritsch ist am 29. Mai 2020 mit 89 Jahren in Graz gestorben.
Michael Krüger