Die 1942 in München geborene Anita Albus ist am 6. Oktober 2024 ebendort verstorben; sie lebte in München und lange Zeit auch in Burgund, in einem Herrenhaus zwischen Langres und Dijon. Sie war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung seit 2004; in diesem Jahr erhielt sie auch deren Johann-Heinrich-Merck-Preis. In die Bayerische Akademie der Schönen Künste wurde sie 2006 gewählt. Neben anderen Ehrungen erhielt sie 2014 den Bayerischen Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst.
Sie begann ihre Laufbahn als Malerin ermuntert von den konservativen Prophezeiungen eines Claude Lévi-Strauss (mit dem sie später eng befreundet war), der Anfang der siebziger Jahre meinte, gefragt nach der Zukunft der Kunst, „würde ich eine anekdotische und im höchsten Maße gegenständliche Malerei voraussagen“. Ihr erstes großes Werk – nach hübschen Kinderreim-Illustrationen – war die Mappe Das botanische Schauspiel. Die Pflanzenporträts dieser Sammlung sind zwiefach: Den Malereien stehen Texte gegenüber, die hingebungsvoll detailliert und bei aller Liebe zum pittoresken Detail von großem Ernst sind. Zu Beginn der Einleitung zum Botanischen Schauspiel wird Linné zitiert, und es ist hübsch, daß dieser Mann, der Inbegriff trockener Systematik, hier als theatralischer Inszenierer botanischer Landpartien erscheint, wo beim Auffinden seltener Blumen Waldhornmelodien angestimmt werden. Daß sie dieses geheime ästhetische Element noch der strengen Ordnungslust hervorgehoben hat, ist charakteristisch für Anita Albus.
Zu Beginn der sechziger Jahre fing die Bezeichnung „Naturdichter“ an, so etwas wie ein Schimpfwort zu werden, wurde zumindest leicht verächtlich konnotiert – man spielte das Gesellschaftliche gegen die Details der Natur aus, denen sich Dichter wie Krolow oder Lehmann mit größter Konzentration widmeten. Diese Abneigung hielt lange an. Man kann sehen, wie eigensinnig es war, daß Anita Albus sich Jahrzehnte vor der uns geläufigen modischen Renaissance des nature writing als Malerin – als Erbin altmeisterlicher Naturdarstellungen – und Schriftstellerin der Auseinandersetzung mit der Natur verschrieb. Das Ineinander von naturkundlicher Faszination und literarischem Interesse zeigt sich vielleicht am schönsten in ihrem 2005 erschienenen Band Von seltenen Vögeln. Ihre Bilder sind oft Zeugnisse eigenen Naturerlebens, so das in Burgund entstandene „Schleiereule mit Gewölle, bei Tag auf dem Dachboden aufgeschreckt“. Bei der Tagung der Darmstädter Akademie in Dänemark 2006 hielt sie einen schönen Vortrag über Tania Blixen und die Ornithologie, der 2007 bei S. Fischer erschien.
Als Beispiel für ihre Studien zur Literatur sei auch das 2011 erschienene Buch über Proust erwähnt: Im Licht der Finsternis. Es ist ihr gelungen, auf dem schon sattsam umgepflügten Terrain der Proust-Philologie noch einige erstaunliche Ergebnisse zu Tage zu fördern – so kann sie zeigen, daß es bereits bei dem von Proust verehrten Ruskin eine frappante Beschreibung der Weißdornblüte gibt, und sie stellt Prousts Bewunderung für Fabres Insektenstudien gebührend heraus. Ihr Faible für Proust hat seine Logik: Die ganze Recherche zielt darauf hin und baut auf der Erkenntnis auf, daß wir uns im Leben durch die Gegenstände unserer Beobachtung definieren. Daß sie Proust zum Kronzeugen ihrer eigenen Wendung zum Katholizismus machte, ist problematisch, geschieht aber nicht ohne Eleganz.
Sie war mit aller Entschiedenheit unmodern. Eine Anekdote aus den Anfängen ihres künstlerischen Schaffens schildert, wie sie an der Kunsthochschule, als ihr eigenes Atelier geschlossen werden mußte, eine Zeitlang das des befreundeten Daniel Spoerri übernehmen konnte – der bekannt war für seine Assemblagen von Geschirr und Alltagsgegenständen auf Tischplatten, die er in die Vertikale kippte und an die Wand hängte: ein Praktiker der zeitgenössischen Moderne. Anita Albus mußte nun in dem übernommenen Atelier, wo sie tätig war, auch Spoerris Studenten empfangen und mit ihnen sprechen, und die Schilderung, wie diese die auf dem Tisch liegenden Arbeiten der Künstlerin Albus mit Verblüffung und schließlich mit „angewidertem Mitleid“ musterten, zeigt drastisch-komisch, von welch radikaler Ungleichzeitigkeit ihre Versuche waren.
Im Umgang mit Menschen oft schwierig, war sie der Fauna und Flora hingegeben. In einem ihrer wunderbar kenntnisreichen Aufsätze zur Kunst – gesammelt in Die Kunst der Künste (1999) und Paradies und Paradox (2002) – zitiert sie ein Emblembuch des 16. Jahrhunderts: „Wenn der weiche immer durstige Schwamm von feuchten Klippen abgerissen wird, bebt er, als ob er die Gewalt spüre. Wieviel mehr müssen Unrecht und Gewalt lebende Wesen schmerzen …“ Die Vogelwelt zerfällt in Von seltenen Vögeln in die „Ausgestorbenen“ einerseits und andererseits die „Bedrohten und Gefährdeten“. Ihr Vergegenwärtigungsversuch von Natur geschieht im Schatten der Katastrophe, darüber will der dekorative Zug ihres Schaffens nicht hinwegtäuschen.
Zu ihren Lieblingsautoren gehörte Nabokov, dessen Sperbereule sie einen Aufsatz gewidmet hat. Ein Teilnehmer von Nabokovs Seminaren hat sich später an eine spezielle Strategie des Dozenten erinnert. „Er sprach dann immer von der ‚Leidenschaft des Wissenschaftlers und der Genauigkeit des Künstlers‘, hielt einen Augenblick inne … und fragte im Tonfall theatralischen Erstaunens: ‚Habe ich einen Fehler gemacht? Will ich nicht eigentlich „die Genauigkeit des Wissenschaftlers und die Leidenschaft des Künstlers“ sagen?‘ … Und dann rief er: ‚Nein! Die Leidenschaft des Wissenschaftlers und die Genauigkeit des Künstlers.‘“
Eine solche gegenseitige Durchdringung der Wissenschaft (von der Natur) und der Kunst, die Anita Albus beide als von der Furie des Verschwindens bedroht sah, eine Durchdringung durch vergegenwärtigende Sprache, prägt ihr Werk.
Joachim Kalka