Antonio Tabucchi kam aus einer ländlichen Gegend der Toscana, dem kleinen Ort Vecchiano zwischen Pisa und Lucca. Er studierte romanische Literaturen in Pisa und Portugiesisch in Bologna und war bis zu seiner Emeritierung Professor für Portugiesische Literatur in Siena. Sein Buch über die letzten Tage von Fernando Pessoa – eine Fiktion – hat er portugiesisch geschrieben, es mußte ins Italienische übersetzt werden. Dieses Spiel mit Sprachen und Identitäten - »man kann in einer Sprache vergessen und sich in einer anderen erinnern« – hat diesen HOMO MELANCHOLICUS zeitlebens fasziniert und umgetrieben. »Das Leben ist eine Musikpartitur«, hat er einmal geschrieben, »die wir ausführen, vielleicht ohne die Musik zu kennen. Die Partitur ist nicht bekannt. Man versteht sie erst im Nachhinein, wenn die Musik bereits zu Ende ist... Um die Wahrheit zu sagen, habe ich noch nicht verstanden, ob wir durch die Zeit hindurchgehen oder ob die Zeit durch uns hindurchgeht. Ich meine, ob wir vergehen und die Zeit stillsteht oder ob die Zeit vergeht und wir stillstehen.« Dieses mystisch-paradoxale Denken, das sich mit größter Klarheit verbindet, erinnert an den von ihm verehrten Argentinier Jorge Luis Borges – und an Fernando Pessoa, dessen Werk er schon ab 1960 übersetzt, kommentiert und herausgegeben hat. Er gilt als der eigentliche Entdecker dieses für die Geistes- und Literaturgeschichte Europas einzigartigen Werkes des portugiesischen Dichters. Es hat mich keineswegs erstaunt, daß Antonio Tabucchi sogar im Tod Fernando Pessoa nahebleiben wollte – der leidenschaftliche Raucher ist in Lissabon gestorben.
Wenn Pessoa seine Ideen auf viele Heteronyme verteilt hat, so war Tabucchi immer bestrebt, seine erfundenen Personen sprechen zu lassen. Er schreibt: »Nehmen wir die großen Autoren des letzten Jahrhunderts: Balzac, Flaubert. Worin besteht ihre eigentliche Leistung? Sie haben die Welt mit fremden Augen gesehen. Sie haben Figuren erfunden, die mit ihnen nicht viel gemein hatten. Und sie haben die Welt mit den Augen ihrer Protagonisten geschildert. Vielleicht ist dies der einzige Weg, um die Welt zu verstehen. Indem man seinen Blickwinkel verändert, ist man fähig zu begreifen. Diese Methode sollte auch heute die Literatur anwenden. Sonst verkommt sie zu einer Art Tribunal, dessen oberster Richter der Schriftsteller ist, umgeben von Geschworenen, den Lesern.«
Alles, was auch nur von weitem als fix und fertige Meinung über die Welt und die Menschen und die Kunst klang, hat er mißtrauisch gemieden. Sein Charakter war zu komplex, um sich in einer einzigen Anschauung zu äußern. »Ich glaube, daß nur diejenigen, die in sich gegensätzliche Utopien vereinen können, uns etwas beibringen können. Ich habe Angst vor Menschen, die sich nie widersprechen. Sie können gefährlich werden. «Kein Wunder, daß unter den Schriftstellern und Intellektuellen Italiens Tabucchi – neben Umberto Eco und Claudio Magris – den hartnäckigsten Kampf gegen den Rechtsbeuger und Demokratiewächter Berlusconi geführt hat, auch wenn er von einem Erfolg seiner publizistischen Kampagnen für die Rechtsordnung nichts wissen wollte. Als Melancholiker war ihm sogar der politische Erfolg verdächtig. »Hätten die verantwortlichen Politiker auf die Ratschläge und Mahnungen dieser großen Schriftsteller gehört – Pasolini, Moravia, Sciascia -, würde Italien sich vielleicht nicht in diesem desolaten Zustand befinden«, sagte er 1996 in einem Gespräch mit Antonio Pellegrini, das der Bayerische Rundfunk gesendet hat. Tabucchi hat eine Reihe von schillernden Erzählungsbänden, viele kluge und fragende Essays und mehrere Romane geschrieben, um seinen Teil zur Erforschung der in Verruf geratenen Seele im 20. Jahrhundert beizutragen. Am bekanntesten wurde sein Roman Erklärt Pereira (1995), der von Roberto Faenza mit Marcello Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt wurde. Dieser Dr. Pereira, »fett, herzkrank und offenkundig unglücklich«, ein Kulturjournalist, der sich im 19. Jahrhundert zu Hause fühlt und am liebsten Nachrufe auf noch lebende Personen schreibt, macht im August 1938, also während des Salazar-Regimes, die Bekanntschaft mit einem jungen Antifaschisten italienischer Herkunft, die sein lethargisches Leben umkrempelt – und zu diesem Buch führt, erklärt Pereira.
»Meine Figuren sind sehr unsicher«, sagt Tabucchi. »Sie verfügen nicht über viele Gewißheiten. Sie sind orientierungslos und ständig auf der Suche. Aber weder sie noch ich wissen, was sie suchen... Sie sind oft, wie ich auch, verwirrt. Diese Typologie spiegelt meine Weltanschauung wieder.« Sein neues Buch, an dem er arbeitete, sollte zu großen Teilen in Berlin spielen, Walter Benjamin war eine entscheidende Rolle zugedacht. Als ich von Tabucchis Tod hörte – wir sind beide 1943 geboren, was ihm stets zu einigen Frotzeleien verleitete -, sah ich vor mir, wie der somnambule Blick Benjamins mit dem träumenden Blick Tabucchis verschmolz zu einer seiner großen Erzählungen, die fast alle von der Vergeblichkeit handeln.
Die grenzenlose Neugier dieses gebildeten, freundlichen Melancholikers ist nun an ein Ende gekommen, die europäische Literatur verliert mit ihm einen ihrer besten Autoren. »Wenn ich einen Wunsch äußern könnte?« fragt er in dem erwähnten Interview und gibt selbst die paradoxe Antwort: »Wenn die Welt untergeht, möchte ich mit ihr gehen.« Antonio Tabucchi mußte gehen, die Welt – wenn wir uns nicht täuschen – besteht immer noch. Aber sie ist spürbar ärmer geworden.
Michael Krüger