Die 1936 geborene Schriftstellerin Barbara von Wulffen gehörte während des vergangenen Vierteljahrhunderts als ordentliches Mitglied unserer Akademie an. Ihre Wahl 1995 war die Resonanz auf zwei Essaybände und zwei Romane. In den 1989 im S. Fischer Verlag erschienenen „Urnen voll Honig“ mit dem Proust'schen Untertitel „Aufbruch in eine verlorene Zeit“ schrieb sie sich in ihre westböhmische Kindheit zurück. Das Schicksal von Vertreibung und Herkunftsverlust gehörte zu ihren Themen. In München absolvierte sie ein Studium der Biologie und Chemie, wandte sich dann der Literaturwissenschaft zu und promovierte bei dem Mediävisten Hugo Kuhn. Die Verbindung von Naturwissenschaft und Dichtung kam in ihrem 2001 erschienenen Buch „Von Nachtigallen und Grasmücken. Über das irdische Vergnügen an Vogelkunde und Biologie“ aufs eindrucksvollste zur Geltung.
Von Anfang an hat Barbara von Wulffen ihre Mitgliedschaft als Verpflichtung aufgefasst, sich für die Aufgaben der Akademie zu engagieren. Sie war ein Mensch, der lieber gab als nahm – und sie hatte viel zu geben. Dabei blieb sie oft im Hintergrund, wobei die entscheidenden Anstöße von ihr ausgingen. Ein Beispiel ist der von ihr eingeführte Abend des 11. Mai 2004, an dem sie den Biologen Josef H. Reichholf und den mit ihr nah befreundeten Philosophen Robert Spaemann zum Thema „Schönheit und Zweckmäßigkeit“ auf das Akademiepodium gelockt hatte. Ein Publikumsansturm ohnegleichen, ungewohnt viele jüngere Zuhörer. Worum es Barbara von Wulffen als Initiatorin der Veranstaltung ging, lässt sich einem Zitat aus ihrem Vogelbuch ablesen. Sie habe es geschrieben in der Hoffnung, den Leser erkennen zu lassen, dass „Vögel nicht nur fliegen, singen und schön gekleidet sind, um sich zu vermehren und ihre Gene zu erhalten, sondern erst einmal um ihre besondere Art in Erscheinung zu bringen, ja um auf möglichst vollkommene Weise sich selber darzustellen“. In diesem Sinn hielt sie im Dezember 2008 einen Vortrag über Olivier Messiaen unter dem Titel „Der A-Dur-Dreiklang der Blaumerle“ und sorgte dafür, dass dem Jahrbuch eine CD mit Klangbeispielen und Vogelstimmen beigegeben wurde. Auch die Akademieabende vom 2.4.1998 über die das Genre der „American Naturalists“ vertretende Lyrikerin Annie Dillard (zusammen mit Richard Exner) und vom 9.2.2012 über den Insektenforscher Jean-Henri Fabre (zusammen mit Anita Albus und Klaus Schönitzer) gehören in diesen Zusammenhang. Barbara von Wulffen war es bei diesen Veranstaltungen nie um die Selbstdarstellung zu tun, sondern ausschließlich um die Sache, die ihr am Herzen lag. Bei der Sonderreihe der Literaturabteilung „Was heißt ,wirklich‘? Unsere Erkenntnis zwischen Wahrnehmung und Wissenschaft“ (Februar 2000) trat sie namentlich überhaupt nicht in Erscheinung und war doch, wie ich bezeugen kann, die eigentliche Ideengeberin für die in sieben hochkarätigen Abenden dargebotene Veranstaltung.
Sie hat aber auch nachdrücklich bei Zuwahlen sich eingesetzt: Ich nenne ein Beispiel für viele: die Mitgliedschaft des seinerzeit noch wenig bekannten, inzwischen mit dem Büchnerpreis ausgezeichneten Lyrikers Jan Wagner. Einer ihrer letzten Texte ist der Nachruf auf Wladimir Woinowitsch im Jahrbuch 2018. Hier endet ein großer Bogen, der mit dem Ungarnaufstand 1956 und dem rückhaltlosen Einsatz ihres Vaters Clemens Podewils begann. Sie hat das väterliche Erbe in dieser Hinsicht voll und ganz übernommen. Viele hinter dem „Eisernen Vorhang“ verfolgte Dichter verdanken ihre westliche Existenz zu einem wesentlichen Teil dieser tatkräftigen Hilfe.
Umso tiefer – das darf nicht verschwiegen werden – ging der Schmerz angesichts des nicht nur nach ihrem Urteil empörenden Zerrbilds, das in Edith Raims Bericht über die Frühzeit der Akademie von Clemens Graf Podewils, dem Generalsekretär der Akademie von 1949 bis 1975, gezeichnet wird. Sie, die keine Sitzung der Literaturabteilung je versäumt hatte, kam nicht mehr. Es war ein um vier Jahre (das Manuskript lag ab Ende 2016 vor) verfrühter unfreiwilliger Abschied. Barbara von Wulffen starb am 20. Juni 2021.
Albert von Schirnding