Der Autor konnte ihm immer vertrauen. Sobald er die Bühne betrat, wußte ich, er wird mir nichts vormachen. Diese Stimme, dieser leichte und kräftige Schritt, der ganze aus dem Mittelpunkt bewegte, gelöst aufrechte Körper wird nicht die üblichen Versuche unternehmen, in die Schuhe, die Kleider einer Rolle, die Haut einer anderen Person zu schlüpfen. Er wird mir diese Kunststücke ersparen. Er wird seine Stimme keinem fremden Wesen leihen, er wird vielmehr einen Ton setzen, einige sparsame Handzeichen geben und mit der Verkörperung eines Textes beginnen. Die Stimme, die ich höre, ist unmelodiös, spröde, zuweilen kieselhart und schneidend, bekommt schnell etwas Wehrhaftes und Drohendes, wie der ganze Kerl, der wortführend, wortversessen, wortgeplagt existiert- eine einzige unablässige Hamlet-Passion, der ich nun folgen durfte mit nie nachlassender Spannung über ein ganzes Theaterleben hin. Ich möchte schwören: dieser Schauspieler hat noch nie über einen Satz hinweggesprochen. Er mochte ihn zerbeißen, nuscheln, brüllen, jammern oder von sich schieben: er würde ihn jedoch nie unter Sinn und Wert verschleudern oder unbesonnen passieren lassen. Und wieviele gute, ja beste Schauspieler gefallen sich darin, den Text lediglich zu oralisieren, als einen Bewegungsablauf zwischen Kehlkopf und Lippe zu behandeln! Nun gehörte Bruno Ganz ohnehin nicht zu den geschickten, verblüffenden Könnern. Weder zu den brillanten Nervösen noch zu den introvertierten Sonderlingen.
In der Filmkunst hat der imitatorische Realismus die ganze Welt erobert und vergessen lassen, daß einst Aura und Stil den Leinwandstar machten. Inzwischen geht alles ausschließlich auf das Funktionieren des Mimetischen. Bei dieser Realismus-Maschine Schauspieler irritiert der kleinste Patzer. Hier etwas zu glatt reagiert, dort die Augenbrauen etwas zu lange hochgezogen. Sonst alles sehr menschenecht. Was mußte man auf Entfernung nicht alles können, um unverwechselbar zu sein und zur Wirkung zu gelangen!
Es gibt zwei Archetypen der Schauspielkunst: den verblüffenden Verwandlungskünstler von Werner Krauss bis Gert Voss. Und den unbestechlichen Stilisten von Alexander Moissi, Oskar Werner bis schließlich zu Bruno Ganz.
In einer Umgebung sich ausbreitender Haltungsschäden bestimmen ihn seine männliche Grazie, seine zusammengefaßte Gliederkraft zu einem der letzten Überlebenden vom Heldenfach. Was konnte nun diesem Geraden den Ruf eintragen, der charakteristische Schauspieler seiner Generation zu sein? Welcher Generation? Jener der Intellektuellen von Achtundsechzig doch wohl, die freilich Formzerstörung und Deheroisierung zu ihren gesellschaftlichen Erfolgen zählen durften.
Ganz hat damals an der Berliner Schaubühne, inspiriert und begleitet von einem so neugierigen Schauspieler-Regisseur wie Peter Stein, seine Berufszweifel und ideologische Anfechtungen zu kunststeigernden Motiven gewandelt. Der hochgespannte Ernst, das Deuten und das Deuten-Müssen, die seinen Darstellungsstil auszeichneten, datieren nicht zuletzt aus jenen Tagen, da Proben noch Zerreißproben waren, Fragen militante Selbstinfragestellung, Probleme ein quälendes Problembewußtsein provozierten.
Es waren aber nicht nur kunstlose Jahre. Sie brachten auch die Geburt eines neuen ästhetischen Rigorismus', der im Nachkriegsdeutschland bis dahin unbekannt war. Figuren wie Beuys, Handke, Straub, auf dem Theater Grüber erlebten ihren Aufstieg, eine asketisch-monologische, oft auch kultstiftende Kunst rückte von den Rändern in den Vordergrund des Interesses. Die Hölderlin-Stimulation ergriff die postrevolutionären Gemüter und führte zu zahllosen Elegien über das Thema der gescheiterten Hoffnung.
Empedokles zu spielen, Hölderlin zu sprechen gehört gewiß zu den authentischen Verkörperungen, die Bruno Ganz in seiner Karriere geleistet hat. Die Trockenheit und Härte seiner Diktion, das semantische, den Sinn austastende Sprechen hat er am Hölderlinschen Vers noch strenger als sonst geübt.
Es war immer dies kämpferische, dies Streiter-Temperament, das ihn unterschied von allen gewitzten, spätmodern verspielten Schauspielern. Es machte ihn zum Protagonisten in einem frühen Wortsinn. Man mag ihn deshalb einen Fürstreiter nennen. Den ersten Streiter in einem sprachgeborenen und in Sprache gefesselten Agon, der für ihn das ganze Theater war.
Tatsächlich war seine Physis, seine Gebärde, seine Rede geprägt von der Technik und dem Geist der Konfrontation. Der Angriff fiel ihm leicht, unerwartet wie auch vorbedacht. Man konnte ihn durchaus überzeugend finden an leisen Stellen, nachdenklich, ironisch und verzichtend, jedoch am besten war er außer sich. Zornesmütig oder klagend. Mit einem Gellen aus dem vorderen Rachen, nie aus dumpfer Kehle. Ein Rasender, dem auch im höchsten Furor jedes Wort noch Waffe war, die er im Feuer seiner Einsicht schmiedete.
In solchen Sequenzen verband er sein Publikum mit den Gewalten der großen Seele, selbstverständlich als der Protagonist der Verzweiflung und niemals der siegreichen Macht.
Seit Jahrzehnten ist es die geläufige Praxis des Theaters, das Große zu sich hinunterzuziehen, auf Identifikationsniveau zu bringen, es kritisch kleinzukriegen. Wenn man Bruno Ganz folgte, dann trat eine notwendige Kopfwende ein. Unwillkürlich hob man nämlich den Blick zu einem schwer erreichbaren Kunstwerk auf dem Hügel. Was er leistete, war meist hart arbeitende Devotion. Ehrerbietung. Private Obsessionen, die Anmaßungen der alltäglichen Gescheitheit sowie der billigen Unterhaltsamkeit höchste Wonne: Tabuzertrümmerung, waren grundsätzlich unvereinbar mit seiner hellen und vorsichtigen Meisterschaft. Offenkundig war er, der Führer durch die Fremde zum Kunstschönen, darüber selbst ein Fremdling geworden unter den sorglosen Resteverwertern der Epoche; insofern seinem Hölderlin, dem Sänger der Götterferne, wohl näher als jene, die den Dichter für ihre politischen Stimmungen mißbrauchten.
War er ein Letzter, war er ein Erster?
Ach, was mag schon vorne sein, was hinten, wo alles durcheinander rennt und ein Wettlauf mit gleichem Ziel nirgends stattfindet?
Mag sein, die Welt teilt sich immer sektiererischer auf, und Amische wird schon sein, wer ein Buch liest.
Mag aber auch sein, in einer technisch ganz entleibten Welt genießt eines Tages die körperliche Unversehrtheit des Bühnenschauspielers eine kultische Verehrung. Ebenso möglich allerdings, daß Physis und Anwesenheit dem menschlichen Sinnlichkeitswandel zum Opfer fallen und außerhalb der virtuellen Vermittlungen nichts deutlich mehr erkennbar sein wird.
Am Rang des Unzeitgemäßen, den die Bühnenkunst des reifen Bruno Ganz behauptete, an einem Herausragenden brechen sich die Modeströmungen wie auch die Ahnungen, was vom Theater übrig bleibt oder ihm wiederkehren könnte in einer Welt, die es so nicht mehr widerspiegeln kann.
Lieber Bruno – mein Freund und Gefährte – Autor für Dich zu sein, war die Erfüllung meines Theaterlebens. In Verehrung und Dankbarkeit bleibe ich Dir immer verbunden.
Botho Strauß