… das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen und das Schwache hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten, damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott. (1 Kor. 1, 26-31)
Diese Textstelle aus dem ersten Korintherbrief kommt mir in den Sinn, wenn ich mir Person und Aura des Komponisten und Theologen Dieter Schnebel vergegenwärtige. Theologisches und ästhetisches Denken haben sich bei ihm ja immer berührt und bildeten quasi die Zündstelle für ein dezidiert politisches Denken und Handeln als Künstler. Er war die Menschenfreundlichkeit in Person, aber gerade diese Freundlichkeit konnte jederzeit jede behauptete Gewissheit unterminieren. Alles konnte und musste auf den Prüfstand gestellt werden. Der Prüfstand: eine theologisch unterfütterte große Menschlichkeit, auch und gerade in Kunstdingen. Diese zugewandte Mitmenschlichkeit war es auch, die den Komponisten Dieter Schnebel von jeder Selbstgewissheit einer ästhetischen Orthodoxie ab- und zum ästhetisch »Verachteten«, dem Kleinen und nicht »Kunstfähigem« hinlenkte: sei es der menschlichen Körper mit seinen Organen, überhaupt die fragile Leiblichkeit des Menschen, seien es Gegenständen des »Alltags«: Spielautomaten, Fahrräder, Motorräder, Traktoren, ja auch zwei Rindviecher durfte in Donaueschingen bei seinem Hebel-Stück Ja wäggerli einmal mitmachen. Das, was »Nichts« ist, das hat ihn interessiert. Dem hat er Denkmale errichtet. Ich erinnere wie er Momente einer glückhaft-übermütigster Sinnlosigkeit in seinen Werken entfesseln konnte, eine Feier von Lebenslust. Ebenso Erfahrungen tiefster Bestürzung, wie beispielsweise in seiner Sinfonie X.
Viele Ansätze, die heute als »Erfindungen« der neuen Konzeptmusik gefeiert werden, haben in Schnebels Arbeiten ihren Ursprung. So ist die »Alltagsbezogenheit« seiner ästhetischen Unternehmungen ein frühes Zeichen seiner Künstlerschaft, die heute unter dem Term »Diesseitigkeit« bzw. »Gehaltsästhetische Wende« junge Komponisten begeistert. Die Ablehnung von jeglichem Dogmatismus und die intensive Arbeit mit Schülern und Heranwachsenden führte zu zahlreichen Konzept- und Prozesskompositionen und szenischen Arbeiten, in denen neben der Körperlichkeit eben »Alltägliches« im Fokus stehen: Beispiele sind Maulwerke, Körper-Sprache, Laut-Gesten-Laute und 1961 die epochemachende Glossolalie. Um die Mit-Teilung ging es Schnebel immer: um die Bewegung des Gefühls, die dann die Bewegung des Geistes in Gang zu setzen verstand. »Denkbare Musik« – so der vieldeutige Titel seiner 1972 veröffentlichten Aufsatzsammlung, heißt eben unter anderem: auch Nichtmusikalisches ist als Musik »denkbar«. Diesem Ansatz verdanken wir Stücke wie die visible music.
Und weil er – vielleicht durch die Distanz und Überblick schaffende Lehre der Theologie geschult – bei seinem Kunstschaffen immer die Pole des »rohen« Naturzustandes (der klingende menschliche Körper, der Alltag, die Lebenswelt) und die Ergebnisse höchster ästhetisch-intellektueller Verfeinerung (die Ordnungswelt des Serialismus) gleichzeitig vor Augen bzw. Ohren hatte, wurde er wie kein anderer seiner Generation zum idealen Vermittler und in seiner Person auch zum Versöhner divergierender ästhetischer Positionen, welche die Epoche seiner künstlerischen Initiierung, also die Nachkriegsavantgarde der 50er und beginnenden 60er Jahre kennzeichnete. Was ihm damals über lange Zeit einen festen Platz zwischen den Stühlen sicherte, kann heute als sein wichtigstes Vermächtnis gelten. Auch sein »Außenseitertum« ist heute vielleicht ebenso prägend wie es damals ausgrenzend war: Schnebel hatte nie Komposition studiert. Er begann 1949 in Freiburg ein Schulmusikstudium, um dann nach Tübingen zur Theologie und zur Musikwissenschaft zu wechseln. Lange hat er als Religionslehrer gearbeitet, erst spät erhielt er akademische Weihen, von 1976 bis zu seiner Emeritierung hatte er die eigens für ihn eingerichtete Professur für experimentelle Musik und Musikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin inne.
In der lebendigen, lebenslangen Auseinandersetzung mit den musikalischen Heroen der Überlieferung und im Spannungsfeld zwischen streng serieller Klangorganisation auf der einen Seite und Zufallsoperationen auf der anderen Seite ist das höchst umfangreiche, persönliche und individuelle Werk von Dieter Schnebel entstanden. Es enthält zahlreiche experimentelle Arbeiten, schreckt aber auch nicht vor gewichtigen »Re-Visionen«, zurück, einem Werkzyklus, in denen er sich bearbeitend beispielsweise mit Bach, Schubert, Schumann oder Wagner auseinander gesetzt hat. Seinem Hang zur Systematisierung verdanken wir auch eine Reihe von hochbedeutenden, quasi abschließenden Gattungsbeiträgen, wie seine Sinfonie X, die Dahlemer Messe, seine Oper Majakowskis Tod und das Oratorium Ekstasis. Seine Kammeroper »Utopien« wurde 2014 bei der Münchner Biennale für neues Musiktheater uraufgeführt.
Was neben seinen Werken bleibt: die Erfahrung von menschlicher Wärme und Empathie, Geschenke für alle, die ihn kennen gelernt haben.
Dieter Schnebel, seit 1996 ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der schönen Künste, wurde am 14. März 1930 im badischen Lahr geboren und starb 88 Jahre später am 20. Mai 2018 in Berlin.
Nikolaus Brass