»Es gehört zu meinem Plan, daß ich nicht auffalle, oder doch kaum.« So läßt Ernst Augustin seinen Roman Raumlicht. Der Fall Evelyne B. beginnen, und dann folgt eine genaue Beschreibung seines Hauses und des Münchner Viertels, in dem der Protagonist – wie auch sein Erzähler – wohnt. Wir können sagen, daß Ernst Augustin das Nichtauffallen gut gelungen ist, und das, obwohl seine Romane zu den außergewöhnlichsten in der neueren deutschen Literatur gehören. Ihrer Sprache, ihrer Konstruktion und ihren Stoffen ist Augustins Profession anzumerken, er war Arzt und Psychiater, vor allem aber war er ein Reisender. Nicht von Kulturinstituten gesponsert, sondern von eigenen Interessen geleitet, reiste er durch Afrika, Indien, Pakistan, Rußland, China, getrieben von einer fragenden Neugierde, einem Interesse an dem Fremden, Anderen, Ungewohnten.
Am 31. Oktober 1927 in Hirschberg geboren, hatte er in der DDR, in Rostock und Berlin, Medizin studiert, arbeitete dann als Assistenzarzt für Neurologie und Psychiatrie an der Charité. 1958 nahm er die Stelle eines Arztes in einem einer amerikanischen Baufirma gehörenden Provinzkrankenhaus in Afghanistan an. Zu seiner Überraschung war er in diesem noch mittelalterlich lebenden Ort der einzige Arzt und der einzige Europäer. Diese wahrlich abenteuerliche Zeit hat er in dem Roman Raumlicht. Der Fall Evelyne B. beschrieben. Der Mut, sich in eine so andere, so ferne, fremde Kultur hinein zu begeben und die Umwelt mit diesem neugierig vorurteilsfreien Blick zu betrachten, korreliert mit einem tiefen Interesse an dem Nächsten, dem Innenleben, der Psyche, der eigenen wie auch jener der anderen, dem so rätselhaften Verhältnis von Traum und Realität, von Wahn und Wirklichkeit, wie es sich insbesondere in der Schizophrenie zeigt. Da, wo die Umgangssprache zur Beschreibung psychischer Absonderlichkeiten dunkle Kammern, Keller, Oberstübchen, Tunnel oder Abgründe aufruft, entstehen bei Augustin faszinierende Räume, Gebäude, unterirdische Gewölbe. Ich kenne keine andere Prosa, in der Räume so genau beschrieben und mit dem Unbewußten in Beziehung gebracht werden, bis eine Seelenarchitektur vor uns ersteht.
In allen seinen Romanen ist die genaue Beobachtung verbunden mit einem jähen Wechsel, bei dem das vertraut Wirkliche ins phantastisch Unwirkliche umkippen kann. Sprachspiele, die zwischen Realistik und Phantastik oszillieren und mit Witz und Ironie den Erzähler kommentierend einbeziehen. Der Kritiker Ulrich Rüdenauer hat zurecht Augustins Romane mit existentiellen Wunschmaschinen verglichen. Wer etwas erfahren will über die Psychowelle, über das London im architektonischen Umbruch der siebziger Jahre und darüber, wie man in einem Eisschrank, der die Form einer roten Cocacolaflasche hat, einige Tage überleben kann, sollte den Roman Eastend lesen.
Ich hatte das Vergnügen, Ernst Augustin vor mehr als dreißig Jahren auf einer Reise nach Bordeaux kennenzulernen. Vergnügen meint nicht nur das gemeinsame gute Essen, den vorzüglichen Wein, sondern vor allem die Gespräche mit ihm auf den Wegen durch die Stadt. Das waren Wanderungen durch Möglichkeitsformen. Ständig blieb er stehen, weil er einen Erker, ein Gesims bewunderte, aber auch Umbauvorschläge machte, Verbesserungen erfand, auch den Abriß von Verschandelungen erwog oder mögliche Anbauten beschrieb. Tatsächlich kaufte er immer wieder Häuser, baute sie um, wohnte eine zeitlang darin, in London, in den USA, auf Elba, um sie dann wieder zu verkaufen. Vor allem baute er an seinem Haus in München, das er über die Jahrzehnte zusammen mit seiner Frau ausgestaltet hat. Mir erschien es wie ein begehbarer Roman, mit den gemalten Scheintüren, Figuren, Grotten, der kleinen Salsa-Bar samt Diskokugel im Keller und den sechzehn unter dem Glasdach im Treppenhaus stehenden pazifischen Königspalmen, die seine Frau Inge, Malerin surrealer Bilder, von einem entfernten Supermarkt auf einem Fahrradanhänger herangeschafft hatte. Oben auf dem Dach ein kleiner Swimmingpool, in dem man zwar nicht schwimmen, sich aber in heißen Nächten hineinlegen konnte. Dort oben im Sommer zu sitzen und über ein Atoll, das er kaufen wollte, zu reden, mit einem seiner gerührten oder geschüttelten Drinks in der Hand, war – wer ihn nicht kannte, wird es nicht glauben – Literatur.
Ein Kunstfehler eines Chirurgen bei der Operation eines gutartigen Tumors im Kopf verletzte den Sehnerv derartig, daß Augustin, der Augenmensch, kaum noch sehen konnte. Zwei Romane hat er noch unter großen Mühen geschrieben, zog mit seiner Frau in ein Altersheim, erlebte ihr Dahinschwinden und starb dort einige Jahre später, am 3. November 2019.
Auf seiner Beerdigung war seine Lebensfreundin Mary, der Verlag, entfernte Verwandte, ein paar Freunde, ein paar Leser, die meisten grau, Kollegen fehlten, wie auch Mitglieder der Akademie, kein Vertreter der Stadt München, über die er wie kein anderer seit Thomas Mann und Lion Feuchtwanger geschrieben hat, und von der Landesregierung war natürlich auch niemand gekommen.
Ernst Augustin war es also gelungen, kaum aufzufallen. Seine Romane aber werden suchende Leser weiter zutiefst erstaunen.
Uwe Timm