Friedrich Achleitner 23. Mai 1930 – 27. März 2019
1979, vor 40 Jahren, hielt Fritz Achleitner einen Vortrag an unserer Bayerischen Akademie der Schönen Künste zum Thema Dreißig Jahre Zukunft. Bemerkungen zur Architektur der Bundesrepublik. Zu Beginn verwies er auf seinen eigenen »nachbarlichen« Blick auf die deutschen Phänomene und erklärte, er könne natürlich den Klischees, die über die Bundesrepublik existieren, erliegen, aber auch Klischees seien Kürzel, die sich zumindest von Wahrheiten ableiten und die in anderen Relationen wieder fruchtbar werden könnten. Damit ist die Denkform benannt, die Fritz Achleitner charakterisiert und die ihn lebenslang beschäftigte. Es geht um die kritische Reflexion, um das Nachdenken über die Begriffe, mit denen sich die Wahrnehmung von Architektur vollzieht. Dieses Nachdenken spiegelt sich schon im Titel vieler seiner Texte, so nannte er beispielsweise »Wiener Architektur« ein »semantisches Schlamassel« und der größte österreichische Architekturkritiker, der zehn Jahre lang von 1962 bis 1972 jede Woche eine Kritik veröffentlichte, verfaßte einen Aufsatz zum Thema Von der Unmöglichkeit, über Architektur zu schreiben? Allerdings mit einem Fragezeichen, denn er konnte sehr wohl und wie kein anderer über Architektur schreiben, aber dabei befragte er sich ständig selbst über seine eigene Sicht und seine Begriffe und hielt damit seine Kritik immer in der Schwebe zwischen Urteil und Selbstbefragung.
Hinter dieser Reflexion über das eigene Schreiben stand seine Doppelbegabung als Architekt und Dichter. Nach dem Architekturstudium und der Meisterschule bei Clemens Holzmeister kam Fritz Achleitner nach einigen Jahren Tätigkeit als freischaffender Architekt zur Wiener Gruppe und zum »literarischen Cabaret« mit H.C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener. Mit Texten im Dialekt, der als poetisches wie auch als provokantes Element entdeckt wurde, zeigte er seine virtuosen verbalen Fähigkeiten beim Umgang mit dem »Wortgesindel«, wie er einmal eine Publikation benannte, der er einen Satz von Fritz Mauthner voranstellte: »Sprache ist das Werkzeug, mit dem sich die Wirklichkeit nicht fassen läßt.« Fritz Achleitner erfaßte die Wirklichkeit, indem er über die Sprache, und dabei über die in Begriffe geronnene Anschauung nachdachte. Als die Postmoderne die Architekturauffassungen ins Wanken brachte, schrieb er:
1965 war die Wand keine Wand mehr, das Fenster hingegen war eine Wand zum Durchschauen, die Tür eine Wand, die sich öffnete. Das Unbehagen an der Architektur war begleitet von einer Veränderung und Zertrümmerung der Begriffe.
1972 beendete er die wöchentlichen Architekturkritiken, ging an die Wiener Hochschule für Angewandte Kunst und unterrichtete. Den Wechsel faßte er literarisch in einen »Quadratroman«, in dem auf fast 200 Seiten Texte in unterschiedlichster Form in immer das gleiche Quadrat eingeschrieben sind. In einer Widmung schrieb er dazu: »Es muß nicht alles Architektur sein, was quadratisch ist.« Gleichzeitig begann er eine Geschichte der Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert, einen Architekturführer, den er auf drei Bände geplant hatte, der sich dann aber bis 2010 hinzog und auf fünf Bände anwuchs. Achleitner besuchte jeden einzelnen Bau, er schrieb nie eine Zeile über Architektur, die er nicht selbst gesehen und begangen hatte, und er legte ein Archiv an, das im Laufe der Jahre auf Zehntausende von Plänen, Fotografien und Texten anwuchs. Es entstand »der beste Architekturführer der Welt«, wie begeisterte Rezensenten urteilten, ein Meisterwerk der kritischen reflexiven Architekturbetrachtung. Mit oft nur wenigen Zeilen wurde ein Bau erfaßt, charakterisiert und zum eigenen Nach- und Weiterdenken vorgestellt. Achleitner verstand es, zu urteilen ohne zu verurteilen, weil er immer, mit feinem Humor, sich selbst mit einbezog. So lieferte er beispielsweise eine präzise Analyse des berühmten Wiener Kerzenladens Retti von Hans Hollein, um dann am Ende festzustellen, seine Beschreibung sei reiner Historismus, denn inzwischen fände man in dem vollgeräumten Geschäft nichts mehr von dem von ihm Beschriebenen, alles sei verdeckt und überwuchert, »das Schmuckbedürfnis hat sich Richtung Heurigen auf den Weg gemacht«.
Nach dem Abschluß der drei Bände allein über die Wiener Architektur schrieb Achleitner den geplanten letzten Band des Architekturführers nicht mehr, sondern verfaßte ein eindringliches Buch über seinen Freund, den Belgrader Baumeister und Philosophen Bogdan Bogdanović, dessen großartige und zutiefst beeindruckenden Denkmäler und Erinnerungsstätten im Tito-Jugoslawien an die Lager und Opfer des Zweiten Weltkriegs er auch in unserer Akademie 2014 vorstellte. Seit 2010 widmete er sich wieder seinen literarischen Vorlieben und jährlich entstand ein Band mit seinen wunderbaren Sprachspielen. Darauf, und auf viel mehr, müssen wir nun verzichten. Am 27. März dieses Jahres ist Fritz Achleitner 88jährig in Wien gestorben. In seinen unnachahmlichen Büchern wird er weiterleben und wir werden ihn schmerzlich vermissen.
Winfried Nerdinger