George Steiner war einer der letzten oder vielleicht sogar der letzte der vielsprachigen philosophischen Köpfe jüdischer Herkunft, die uns nach dem Desaster des 20. Jahrhunderts die Hoffnung gaben, nicht aus dem Kreis der Kulturvölker ausgeschlossen zu werden. Im Gegenteil: durch ihre unverbrüchliche Neigung zur deutschen Kultur haben sie wesentlich dazu beigetragen, das Desaster zu verstehen – auch wenn es nicht wirklich zu verstehen ist. Aber George Steiner kannte sich nicht nur in der deutschen Literatur aus, sondern war auch in allen romanischen Literaturen und Ideengeschichten bewandert und konnte mühelos in einem Gespräch über englische Poesie Vergleiche aus fünf anderen Sprachen zitieren. Und ganz besonders lagen ihm die jüdischen Schriften am Herzen, die mystischen und die Schriften der Unterweisung, über die er – besonders in dem Band Der Garten des Archimedes – immer wieder geschrieben hat. Der »Text« ist das Zuhause, jeder Kommentar zu ihm ist eine Heimkehr. Aber George Steiner war nicht ein Philologe im klassischen Sinne, sondern ein Essayist, ein Fragensteller, der das Fortwirken der alten Texte bis in unsere Zeit verfolgt hat. Zumal die Frage nach der Entstehung des Antisemitismus hat ihn umgetrieben, die er von den frühen Texten an analysiert hat, um die Frage nach den Gründen für Auschwitz in einem tieferen Sinne zu verstehen.
»Vermutlich wird die abendländische Kultur, vor allem die Europas, ihre volle Lebenskraft nicht wieder zurückerhalten und weiterhin den Quellen ihres Seins abgeschnitten bleiben, wenn die – historischen, symbolischen, metaphysischen und religiösen – Verbindungen, die zwischen Golgatha und Auschwitz bestehen, nicht gedacht werden können, wenn sie nicht in die Reichweite des Verstandes und jener Metaphern gerückt werden, mit denen wir das Ungelöste und Unlösbare in unserer Erfahrung erträglich machen. Momentan scheint es jedoch nicht so, als ob die Menschen nach der großen Finsternis von ihrem Intellekt oder ihrem Vorstellungsvermögen her zu einem solchen Denkakt befähigt seien. (…) Die christlichen Kirchen und Theologen haben, in schon skandalöser Weise, versagt, als es darum ging, ihre nicht nur historische und beiläufige sondern ontologische und doktrinäre Rolle bei der Kultivierung des Judenhasses kritisch zu betrachten.(…) In auffallender Weise haben uns die Meister des philosophischen Fragens, selbst wenn sie persönlich, das heißt mit ihrem eigenen Leben, in das Geschehen verwickelt waren (ein Wittgenstein, ein Heidegger), wenig oder gar nichts zu sagen. Dennoch: in einem gewissen, wie ich glaube entscheidenden Sinn, stand das Kreuz neben den Gaskammern – und zwar aufgrund der ideologisch-historischen Kontinuität, welche den christlichen Antisemitismus, der so alt ist wie die Evangelien und die Kirchenväter, mit seiner finalen Eruption mitten im Herzen des christlichen Europa verbindet.«
George Steiner kam 1929 in Paris zur Welt, wohin sein Vater, ein Banker, schon 1924 gezogen war, um dem Antisemitismus in Österreich zu entgehen. Von Paris ging nach der deutschen Besetzung die Flucht über Genua nach New York, wo George Steiner auch amerikanischer Staatsbürger wurde. Er studierte zunächst Naturwissenschaften, später Literaturwissenschaft, promovierte in Oxford, wurde Professor in Cambridge und folgte dann einem Ruf nach Genf, wo er, in der Nähe von und im Austausch mit Jean Starobinski, von 1974 bis 1994 Komparatistik lehrte. Nach der Emeritierung kamen noch Gastprofessuren in Oxford und Harvard hinzu, wo er die berühmten Norton Lectures hielt.
Von früh an schrieb Steiner für Zeitungen und Zeitschriften, für das Times Literary Supplement und den Guardian, vor allem aber für den New Yorker, wo er eine Art Chefkritiker war: viele europäische Tendenzen, Strömungen und Autoren hätten die gebildeten Amerikaner ohne George Steiners tätige Nachhilfe nicht kennengelernt. Daneben entstanden die Bücher. Mit seiner voluminösen Übersetzungstheorie Nach Babel wurde er schnell bekannt, es folgten die klugen Monographien über Tolstoj oder Dostojewski und die Antigonen oder das Buch Der Meister und seine Schüler, ein Abschiedswerk auch über die Rolle des Vorbilds in der abendländischen Kultur. Und daneben ein Dutzend kluge Essaybände, in denen er sein enormes Wissen ausbreitete, und eine Art geistige Autobiographie, Errata. Bilanz eines Lebens.
Magisch angezogen (und abgestoßen) war er von Martin Heidegger. Ich kann mich an mehrere Gespräche darüber erinnern, was Heidegger wohl bei dem Treffen mit seiner einst geliebten Hannah Arendt in der Nachkriegszeit gesagt hat. Seine Vermutung: er habe sich schließlich fürs Schweigen entschieden.
Am Schluss muss ich eine Anekdote erzählen, auf die dieser unerhört empfindliche, also sehr leicht verletzbare Mensch immer wieder zurückgekommen ist.
Wir lernten uns bei einem Symposion an der Europa-Universität in Florenz kennen, wo er einen Vortrag und ich einen Beitrag über Europa zum Besten gegeben haben. Es regnete in Strömen. Also blieben wir in dem Hörsaal sitzen und kamen ins Erzählen, vom Hundertsten ins Tausendste und wieder zurück, und als wir endlich aufbrechen wollten, waren unsere Mäntel nicht mehr auffindbar.
Wenn George diese Geschichte erzählte, wurde daraus ein Drama der Unbehaustheit, eine große Tragödie. Am Anfang dachte ich, ich hätte nur einen (allerdings besonders schönen) Mantel verloren, aber mit der Zeit war ich dann davon überzeugt, mit diesem Mantel zugleich auch den Schutz vor den Zumutungen dieser Welt verloren zu haben.
George Steiner ist am 3. Februar 2020, in seinem neunzigsten Lebensjahr, in Cambridge gestorben. Er war seit 1998 Mitglied unserer Akademie.
Michael Krüger