Der Pritzker-Preis, die höchste Auszeichnung auf dem Gebiet der Architektur, ist bislang zwei deutschen Architekten verliehen worden. Frei Otto, der weltweit anerkannte Pionier des Bauens mit leichten Flächentragwerken, dürfte, als ihm 2015 posthum die Auszeichnung zugesprochen wurde, als Genie der Konstruktion geehrt worden sein, als Ingenieur, der große technische Visionen realisiert hat. Bei Gottfried Böhm hat die Pritzker-Jury, als sie ihm 1986 den Preis verlieh, ganz andere Werte in den Vordergrund gestellt. Fast einzigartig in der Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist jedenfalls die Vielfalt ausdrucksvoller Formen, die Böhm für extrem unterschiedliche Funktionen gefunden hat. Und wie kein anderer seiner Kollegen hat er beim Entwerfen von Bauten die Schwesterkünste Bildhauerei und Malerei kreativ miteinbezogen.
Schon die kleine Kapelle, die Böhm 1947 in Köln in die Ruine der Kolumba-Kirche hineinmodelliert hat, lässt den entschiedenen Willen erkennen, mit modernen Mitteln einen Raum zu schaffen, der die Besucher aus der nüchternen Alltagswelt entführen kann. Als Böhm dann 1955 das Architekturbüro seines Vaters Dominikus Böhm in Köln übernahm, hat er sich ganz in die Tradition gestellt, die sein Vater im Kirchenbau mit expressionistisch bewegten Architekturen begründet hatte. Allein in den folgenden sechs Jahren sind 30 Kirchen ganz unterschiedlichen Charakters entstanden, in denen frei erfundene Formen immer wieder auf geometrisch-stereometrische Urformen wie Quadrat, Kreis und Dreieck, Zylinder, Kegel und Pyramide treffen.
Am entschiedensten abgewandt von der im Kirchenbau über Jahrtausende gültigen Basilikaform hat sich Böhm in der gewaltigen Marien-Wallfahrtskirche in Velbert-Neviges. Ein Massiv aus Sichtbeton mit steilen Felswänden und aggressiv spitzen Gipfeln baut sich dort vor den Wallfahrern auf. Im Inneren aber öffnet sich ein Raumgebilde von einzigartig vielfältiger Tiefenwirkung. Es empfängt nur aus winzigen Luken in höchster Höhe und aus versteckten Winkeln Tageslicht, ist also stets von einem mystischen Dunkel erfüllt.
Ähnlich spektakulären Ruhm konnte unter den Verwaltungsbauten, die Böhm in jenen Jahren errichtete, nur das zwischen die Türme einer mittelalterlichen Burg hineinkomponierte Rathaus von Bensberg erwerben. Auf den Mauerresten der Burg hat Böhm den Riegel mit den Büroetagen so um den expressionistisch sich hochschraubenden Treppenturm herumgelegt, dass der Bau heute nicht nur als überzeugendes Beispiel für Neues Bauen in alter Umgebung, sondern auch als eines der lebendigsten Werke des sogenannten Brutalismus in Deutschland gefeiert wird.
Als in den späten Siebzigern in Saarbrücken über die fällige Sanierung des barocken Stadtschlosses diskutiert wurde, konnte sich Böhm mit der Idee durchsetzen, die beiden Seitenflügel äußerlich in überkommenen Formen zu restaurieren, in der Mitte aber einen deutlich höheren Mittelrisalit aus Stahl und Glas einzufügen. Dass auch in einem so entschieden modernen Gehäuse Dekorelemente eine Bereicherung sein können, führte Böhm mit der formal zwar abstrakten, aber farbig festlichen Auskleidung des zentralen Saals eindrucksvoll vor.
Ein anderes vorbildhaftes Modell ist Böhm in den Achtzigerjahren mit dem Verwaltungsgebäude der Firma Züblin in Stuttgart-Vaihingen gelungen. Dort hat er zwei parallel stehende Büroriegel so weit auseinandergezogen, dass zwischen ihnen ein stattlicher Freiraum entstand, den er gläsern überwölbte und an drei Stellen mit Stegen überbrückte. Die so entstandene helle Halle, in der Bäume wachsen, lädt auf angenehme Weise zum Verweilen oder zu repräsentativen Veranstaltungen ein und ist darum von Architekten, die große Hotels bauen mussten, gerne kopiert, variiert und paraphrasiert worden.
Im Alter hat sich Gottfried Böhm beim Entwerfen immer deutlicher vom gestischen Impetus seiner virtuosen Skizzen und Zeichnungen leiten lassen. So übertragen die leuchtend roten Dachsegel des Hans-Otto-Theaters in Potsdam den Elan der farbigen Vorzeichnungen schwungvoll in die umgebende Havellandschaft hinaus. In anderen der späten Bauten werden räumliche Urvorstellungen beschworen. So könnte man die riesige leere Rotunde, die Böhm in Luxemburg in den von ihm gebauten Würfel der Deutschen Bank hineingefügt hat, als eine Art Pantheon des Kapitals bezeichnen. Die gläserne Pyramide der Stadtbibliothek von Ulm aber öffnet sich auf allen vier Seiten so direkt in die Altstadt hinein, dass klar wird, wo Böhm die Kultur beheimatet sieht.
Am 9. Juni 2021 ist Gottfried Böhm im Alter von 101 Jahren gestorben. Er hat sein großes Erbe an seine Söhne weitergegeben.
Gottfried Knapp