Bevor ich Günter Herburger und seine Bücher kennenlernte, war er schon eine Größe in der zeitgenössischen Literatur. 1964 erschien bei Luchterhand sein Band mit Erzählungen Eine gleichmäßige Landschaft, mit dem er sich sofort als Schriftsteller bekannt gemacht hatte. Als ich im Klappentext las, er käme aus Isny und habe Sanskrit studiert, dachte ich, ungebildet und ignorant wie ich war, Herburger sei eine Art Guru. Ich hatte noch nie etwas von Isny gehört und konnte mir auch nicht vorstellen, daß man Sanskrit studiert. Aber dann lernte ich ihn im Friedenauer Kiez kennen, wo sich mittlerweile auch Günter Grass und Uwe Johnson niedergelassen hatten und wo Wolff's Bücherei die Literaturfreunde anzog. Herburger war ein drahtiger, schwäbelndes Hochdeutsch sprechender, außerordentlich vitaler und lustiger Mensch, der bereits in ganz Europa gelebt hatte, in zwei Ehen nicht besonders erfolgreich war und sich, nach Fertigstellung eines damals ebenfalls berühmten Gedichtbands, Ventile, daran machte, sein erstes Hauptwerk niederzuschreiben, den Roman Jesus in Osaka. Er las bei den Tagungen der Gruppe 47, liebäugelte mit der DKP, der er später für eine Weile sogar beitrat, war stets freundlich und hilfsbereit und überaus produktiv.
1973 kam er, nun in dritter Ehe verheiratet und Vater eines behinderten Kindes, um das er sich zu kümmern hatte (und um das er sich rührend sorgte) nach München und wohnte, zusammen mit den Schriftstellern Gisela Elsner und Paul Wühr, in einem Haus in der Elisabethstraße in München-Schwabing. Günter Herburger schrieb Drehbücher für Film und Fernsehen und eine Reihe von sehr erfolgreichen Kinderbüchern über »Birne«, die damals alle Welt lasen – was man leider nicht über sein ehrgeizigstes Romanprojekt sagen kann, die Thuja-Trilogie, ein kompliziertes, ausuferndes Romanlabyrinth, in dem sich alle bei der Lektüre verfingen und froh waren, wenn sie es wieder verlassen durften.
Ab 1983 entdeckte er seine Liebe zum Marathonlauf, eine Zuneigung, die seine Freunde mit Staunen und Hochachtung zur Kenntnis nahmen, weil in diesen Kreisen – wir hatten die » Autorenbuchhandlung« gegründet – eher geraucht und getrunken und natürlich sehr wenig Sport getrieben wurde. Einen Schriftsteller als Marathonläufer hatte es noch nicht gegeben. Nun traf man Günter in abenteuerlicher Verkleidung an der Ampel stehend laufen, mit schlottriger Sporthose und einer Mütze mit angenähtem Halslappen zum Schutz gegen die Sonne. Er trainierte für die großen internationalen Läufe, und einmal ist er bei sengender Sonne um sämtliche Pyramiden Ägyptens herumgelaufen. Zum Beweis schickte er am nächsten Tag ein Foto, das seinen Lauf bezeugte, und bald erschienen in dem kleinen erstklassigen Münchner Verlag A1 Dokumentationen seiner anstrengenden Leidenschaft. Ich sehe jetzt noch das völlig entgeisterte Gesicht des Schriftstellers Hans-Jürgen Fröhlich vor mir, dem es schwerfiel, drei Treppen zu steigen: ihm fiel bei der Erzählung von Günters Pyramidenlauf buchstäblich die Pfeife aus dem Mund.
In den letzten Jahren hat Günter Herburger vor allem Gedichte geschrieben, für die er zu Recht mehrfach ausgezeichnet und gelobt worden ist. Weit ausschwingende Erzählgedichte, in denen seine poetische Begabung und sein Scharfsinn, aber auch sein Eigensinn deutlich wurden. Und er war ein begnadeter ad-hoc-Kritiker. Manchmal, wenn er nach seinen Laufausflügen nicht schlafen konnte, rief er nachts an und kritisierte scharf und sehr loyal die Texte, die man gerade irgendwo veröffentlicht hatte. Es war ein Problem für ihn geworden, daß sein Herz und seine Lunge sich durch seinen irrsinnigen Sport vergrößert hatten, so jedenfalls habe ich seine Begründung in Erinnerung, wenn er sich nach diesen nächtlichen Marathonanrufen am nächsten Tag entschuldigte. Man hätte diese Spontankritik mitschreiben sollen, denn sie war immer interessant und hilfreich.
Eines Tages schrieb er mir, er könne die Miete in München nicht mehr zahlen und wolle zurück nach Isny, wo er als Sohn eines Zahnarztes auf die Welt gekommen war. Das fand ich keine gute Idee, und ich war froh, als er mir dann bald eine Berliner Adresse schickte. Inzwischen war er endlich in unsere Akademie gewählt worden. Die Einladung zu einer Lesung zog sich hin und mußte aus Krankheitsgründen mehrfach abgesagt werden. Sie kam nicht mehr zustande. Am 3. Mai 2018 ist Günter Herburger in Berlin gestorben.
Michael Krüger