Es gibt Menschen, von denen sich mir ein Moment einprägt, der wie eine Akkumulation der ganzen Person erscheint. Mit Hans Zender ergab sich solch ein Moment vor ca. 22 Jahren während eines Gesprächs, das wir damals in seinem Haus im Taunus führten. Es ging über Stunden und konzentrierte sich auf eines seiner zentralen Themen, nämlich auf die Nicht-Linearität musikalischer Wahrnehmung im Verhältnis zur vermeintlichen Linearität musikgeschichtlicher Verläufe. Es ging entfernt um das, was sein ehemaliger Mentor und Freund Bernd Alois Zimmermann als Kugelgestalt der Zeit bezeichnete. Während seiner Gedankengänge stand Hans Zender plötzlich auf, spazierte durch den Raum, nahm einen herumliegenden Schlägel in die Hand und unterbrach sich von nun an gelegentlich selbst mit einem heftigen Schlag gegen einen von der Decke hängenden Gong: keiner Logik folgend, nichts unterstreichend, stattdessen hineinplatzend, sich ausbreitend, klangvoll.
Das Aufeinandertreffen hervorzurufen: von Denken und Hören, Geplantem und Entgegenkommendem, Kontinuität und Präsenz, war eines der zentralen Motive von Hans Zenders künstlerischem Schaffen, ebenso als Dirigent wie Komponist. Geboren 1936 in Wiesbaden, widmete er sein Leben dem Schreiben wie Interpretieren von Musik gleichermaßen, so lange es seine Augen ihm erlaubten. Hinzu kam zeitweilig das Lehren von Komposition sowie das Reflektieren über Musik im Medium der Sprache.
Unzählige neue Werke wurden durch ihn als Dirigent uraufgeführt, klassische in ein zeitgenössisches Licht gestellt. Immer ging es ihm darum, alte und neue Musik als Erfahrungsräume zu betrachten, die sich nicht gegenüberstehen, sondern aufeinander einwirken. Letztlich ging es ihm jedoch darum, im Konzert anhand der Partitur ein klangstrukturiertes Jetzt zu erzeugen; unwiederholbar. Musik war für den Dirigenten Zender immer neu.
Für den Komponisten war sie demgegenüber immer auch alt, wenn nicht uralt. So sehr er sich für avancierte Techniken interessierte und sie künstlerisch forschend weiterentwickelte, so sehr spürte und reflektierte Hans Zender den kulturellen Untergrund, aus dem sie erst hervorgehen konnten. Instrumente, deren Stimmung und Skalierung waren, ebenso wie die Notenschrift selbst, nicht einfach ein Gegebenes für ihn, obwohl er nie infrage stellte, sich ihrer zu bedienen. Vielmehr betrachtete er sie als Resultate von Abzweigungen, in denen Musik auch anders hätte weitergehen können. Dort hielt er sich auf, hörend, lesend und experimentierend. So hörte er zum Beispiel die von der temperierten Stimmung weggedrückte Eigenschwingung der Klänge und entwickelte eine neue Harmonik, in der Natur- und Gleichtönigkeit zusammenspielen. Er nannte sie gegenstrebig. Oder er studierte musikalische Praktiken und Ausdrucksformen, wie sie dort entstehen, wo Musik ohne Notation weitergetragen wird. Und experimentierte daraufhin mit neuen Formen in seinen Kompositionen. Herausgekommen ist über die Jahrzehnte seines Schaffens ein immenser Werkkorpus von Kammer- und Orchesterkompositionen, Klavierliedern, Oratorien und Opern, der sich nie einordnen ließ in aktuelle Moden und Strömungen. Eher war sein Schaffen von der Vision getragen, angesichts der Reflexion auf Fragen der Zeit das Zeitlose in der Musik, das, was sich nicht vereinnahmen läßt, immer neu hervorzurufen wie einen Gongschlag.
»Ich habe noch so viel Musik im Kopf« soll Hans Zender gesagt haben, als seine Blindheit ihm das Komponieren bereits unmöglich gemacht hat und er sein Schaffen auf das Schreiben von Büchern verlagerte. Tröstlich ist, wie viel Musik er uns hinterlassen hat.
Isabel Mundry