»Ich kann nichts anderes sagen, als daß ich buchstäblich nur das zu Papier bringe, das, würde ich es nicht tun, mich zersprengte«
Spannt man einen großen Bogen vom unerbittlich, nahezu brutalem Anfang von Heinz Winbecks erster Sinfonie »Tu solus« hin zu dem in großer Ruhe und innerem Frieden endenden Finalsatz seiner – bewußt als letztes sinfonisches Werk konzipierten – Fünften, werden einem schlagartig und existentiell die ungeheuren Dimensionen verdeutlicht, die diese fünf monolithischen, und in ihrer Aussagekraft einzigartigen Sinfonien beinhalten.
Eine Musik, die – weitab von rein vordergründig-materialimmanenten musikalischen Problemstellungen – die Ängste, Abgründe und Gefahren menschlichen Daseins in einer aus den Fugen geratenen Welt und Gesellschaft schonungslos thematisiert und vor Augen führt, und gleichzeitig mit großer Intensität versucht, der drohenden Ausweglosigkeit ein beherztes (wenn auch wahrscheinlich vergebliches) Hoffen entgegenzusetzen:
Ausblicke nach vorn durch das Sumpfgelände der Angst … doch der Angst entgegen!
Eindrucksvoll hörbar in der von der persönlichen Verarbeitung der Barbarei des Dritten Reichs geprägten (»Dem Andenken an Sophie Scholl« gewidmeten) ersten Sinfonie, über die den Schöpfungsprozeß des Lebens und der damit verbundenen Entwicklung menschlichen Bewußtseins (die auch hier wieder in schicksalshafte Ausweglosigkeit mündet) reflektierenden 2. Sinfonie, bis hin zur – mit »Grodek«, dem letzten, aus traumatischen Kriegserlebnissen genährtem Gedicht Georg Trakls übertitelten – dritten Sinfonie als erstem Werkkomplex.
Danach: die alle Dimensionen sprengende 4. Sinfonie »De Profundis« (als persönliche Klage über den schmerzlichen Verlust der Mutter einerseits, als Reflexion über den Tod und die letzten Fragen zu Tod und Leben andererseits) und die – wie bereits erwähnt – bewußt als Abschluß dieses großartig wie einzigartigen symphonischen Zyklus konzipierte 5. Sinfonie »Jetzt und in der Stunde des Todes«.
Letztere entstand aus einem ursprünglich als zur Vollendung des Finalsatzes aus Anton Bruckners Neunter Sinfonie gedachtem Kompositionsauftrag von Dennis Russell Davies für das Linzer Bruckner Orchester.
Nachdem Winbeck für sich entschieden hat, daß zu wenig Originalmanuskripte vorhanden wären um dieses Werk verantwortungsvoll beenden zu können, mutiert der Kompositionsverlauf – immer wieder auch hörbar auf Bruckners eigenes Schicksal verweisend – in einen einstündigen Reflektionsprozeß über die letzten Dinge des Lebens und das unausweichliche Münden in den Tod. Derartig skrupulöses »Mit-sich-Ringen« und »In-Frage-Stellen« ist bezeichnend für das Werk und die Person Heinz Winbecks.
In allen Werken spür- und erfahrbar ist Winbecks tiefe, ins Jetzt transferierte und organisch weiterentwickelte Verwurzelung in und mit der Tradition.
Sein einzigartig-profundes Wissen um die großen Werke der Vorväter und Visionäre – sowohl im Musikalischen als auch im Literarischen – aber auch seine aus biographischem Erleben heraus geprägte emotionale Beziehung zu deren Meisterwerken und Denkgebäuden, ermöglichte ihm auf je eigene unverwechselbare Weise in seinen Kompositionen musikalische wie auch philosophische Bezüge zwischen Tradition und Moderne herzustellen, und so dem Hörer ein Höchstmaß an hörend-reflektierender Aufmerksamkeit abzuverlangen.
Winbecks Musik und sein darin entfaltetes gedankliches Universum deckt unerbittlich alles Falsche (im Sinne von: Unehrliche), oberflächlich Gemachte und mäßig Durchdachte, aber vor allem alles nicht bis in schmerzlicher Intensität und schonungsloser Intimität Gefühlte auf, und entlarvt somit unausweichlich jene, die das zwischen den Notenzeilen enthaltene Existentielle nicht erkennen können (wollen?), und Musik damit auf vordergründig-klangliche und pseudointellektuell »abgesicherte« Topoi reduzieren.
Aus diesem Denken heraus entsteht eine Musik, die vor Tonalität keine Angst hat, sondern diese – zusammen mit einem unbändigem Formwillen und einem einzigartigen Gespür für zeitliche Dimensionen – zu weitaus radikaleren und in ihrer Aussagekraft überzeugenderen Werken führt, als das so manches selbstbetitelt Radikale auch nur ansatzweise erreichen kann.
Sein – zahlenmäßig überschaubares – Œuvre verdeutlicht das große Verantwortungsbewußtsein, nur Musik von existentieller Notwendigkeit zu schreiben, was nicht selten zur Ablehnung von sehr lukrativen Kompositionsaufträgen geführt hat.
Wo andere Kompositionskollegen routiniert und im Auftragsrausch gefangen, Töne im Akkord aufs Blatt Papier setzen, hat Winbeck gewußt zu schweigen, und auf jene innere Notwendigkeit zu warten, die dann die einzig richtigen Töne hervorbringen konnte.
Winbecks Werkkatalog umfaßt u. a. – neben den fünf Sinfonien als Hauptwerke – einige wenige Orchesterstücke in mitunter kleinerer Besetzung (u. a. »Winterreise« für 19 Solostreicher, Entgegengesang und »Denk ich an Haydn« für Orchester), vier Streichquartette (zählt man das »Helian-Fragment« für Stimme und Streichquartett hinzu) und wenige weitere Kammermusiken aus der »vorsinfonischen« Zeit, die alle ausnahmslos diesem hohen kompositorischen Anspruch entstammen.
Als Dozent für Tonsatz und Gehörbildung, vor allem aber in seiner fast 25jährigen Amtszeit als Professor für Komposition an der Hochschule für Musik in Würzburg hat er auch hier unablässig – und sehr feinfühlig und individuell die jeweilige Persönlichkeit seiner Studenten beachtend – auf die große Verantwortung des Komponierens sich selbst und der Musik gegenüber hingewiesen.
Seine Weigerung, an für die eigene Komponistenkarriere wichtigen Veranstaltungen teilzunehmen, sich selbstvermarktend in den Vordergrund zu drängen, oder Aufträge für neue Kompositionen anzunehmen, die nicht auch ohne Auftrag hätten geschrieben werden müssen (»Ich kann nichts anderes sagen, als daß ich buchstäblich nur das zu Papier bringe, das, würde ich es nicht tun, mich zersprengte«) hat der Dringlichkeit, seine Werke einem breitem Publikum bekannt zu machen, leider diametral entgegengewirkt, und so ist dieser Komponist und seine Werke heute noch ein zu entdeckender Geheimtipp, der durch die im Sommer anstehende CD-Veröffentlichung sämtlicher Sinfonien (tyxart-Label) hoffentlich einer neuen großen Zuhörer- und Veranstalterschaft zugeführt wird.
Heinz Winbeck war nicht nur ein – im besten Sinne des Wortes – eigenbrötlerischer – und also, im Positiven eigenartiger Komponist, sondern ein durch seine zutiefst humanistische Grundhaltung und hochgebildete Persönlichkeit wunderbarer Gesprächs- und Diskussionspartner, mit dem man lange Dialoge nicht nur über die schon erwähnten musikalischen und literarischen Verwurzelungen, sondern insbesondere auch über naturwissenschaftliche und kosmologische Fragestellungen und Bewandnisse führen konnte.
Zusammen mit seiner lieben Frau Gerhilde bewohnte er – wie kann es anders sein – abseits vom Trubel jedweder Großstadtnähe, ein altes Klosteranwesen in der Nähe von Riedenburg im Altmühltal, auf dem auch mehrere Ziegen, Esel, Gänse, Katzen und 2 über alles geliebte Hunde ihre Bleibe gefunden haben. Ein Refugium inmitten einer unkontrollierbaren, und mitunter beängstigenden Welt, der zu begegnen nur eine konsequente Lebenshaltung, eine an Kraft kaum überbietbare Musik und die Suche nach einer Einheit mit der Schöpfung möglich macht.
Der Schluß der 5. Sinfonie mündet – nach langen von Abgründen gesäumten Wegen – in eine zutiefst beseelte und von unnötigem Ballast befreite, in sich ruhende Musik.
Heinz Winbeck hat einmal – frei von jedwedem Pathos – bemerkt, daß er in diesem Ende seinen eigenen Tod sehe.
Am 26. März 2019 ist Heinz Winbeck in Regensburg unerwartet und mit 73 Jahren viel zu früh verstorben.
Sein Geist und seine Musik aber werden in seinen wenigen, aber umso bedeutsameren Partituren weiter existieren.
Tobias PM Schneid