Abteilung Literatur: Joachim Kaiser – Ordentliches Mitglied seit 1970
geb. 18. Dezember 1928 in Milken, Ostpreußen – gest. 11. Mai 2017 in München
Der Begriff des ›Großkritikers‹ war auch in jenen tempi passati, in denen es solche Exemplare im Dschungel des Kulturbetriebes noch gab, durchaus nicht nur positiv gemeint. Seit längerem ist er obsolet geworden, und auch die ziemlich raren Kritikerpersönlichkeiten, die im Prinzip das Zeug dazu hätten, Großkritiker genannt zu werden, beziehungsweise eine solche Position adäquat auszufüllen, bekommen noch nicht einmal die Gelegenheit dazu. Als Marcel Reich-Ranicki im Bereich der Literatur und Joachim Kaiser im Bereich der Musik, des Theaters und der Literatur (diese Beschreibung benennt schon den Unterschied der beiden miteinander befreundeten Kritiker) auf dem Höhepunkt ihres Wirkens waren – und dies waren sie auf einer langen Strecke – verkörperten beide den Idealtypus des Großkritikers, manchmal auch Kritikerpapst genannt. Joachim Kaiser kam deutlich früher als Reich-Ranicki in diese Position, und dies vor allem aus biografischen und zeitgeschichtlichen Gründen.
Der in Milken in Ostpreußen am 18. Dezember 1928 geborene Arztsohn Kaiser hatte bereits während des Studiums sich journalistisch betätigt und sich die Aufmerksamkeit Theodor W. Adornos zugezogen, als er dessen ebenso schwieriges wie umstrittenes Buch mit dem Titel Philosophie der neuen Musik mit dem ganzen Selbstbewußtsein und auch der Allüre (der ein Gran Frechheit beigefügt war) eines Dreiundzwanzigjährigen rezensierte. Adornos Empfehlung öffnete schnell einige wichtige Türen, auf Umwegen auch zur Gruppe 47, bei deren Tagungen er seit den frühen fünfziger Jahren immer wieder dabei war. Die daraus sich ergebenden Ablenkungen führten dazu, daß er im Fach Germanistik für ein solches Wunderkind relativ spät promoviert wurde, allerdings mit einer Arbeit über den Stil des österreichischen Dramatikers Franz Grillparzer, die auch heute noch zitiert wird. 1958 trat er in die Feuilleton-Redaktion der Süddeutschen Zeitung ein, bei der er, wenn auch schon länger verstummt, über seinen Tod hinaus als leitender Redakteur im Impressum geführt wird. Mit 30 Jahren war er also in einer der führenden deutschen Tageszeitungen angekommen und zugleich als ebenso führender Kritiker in allen genannten Bereichen anerkannt. In einer staunenswerten Kontinuität hat er diese Position über 50 Jahre lang bewahren können. Er hat wohl nie ganz verstanden, wie es andere Kritiker aushielten, nur über Musik, nur über Theater, nur über Literatur zu referieren. Die Fülle und Breite seiner Kenntnisse und kritischen Leidenschaften wurden nicht ohne Elemente von fundierter Eitelkeit, die er sich selbst zubilligte, ausgebreitet, und was angeblich antiquierte Literaturwissenschaft früher die »gegenseitige Erhellung der Künste« nannte, das hat Joachim Kaiser als Kritiker in fruchtbarster Weise verwirklicht. Sein erstes Buch nach der Dissertation war eine immer noch mit Gewinn zu lesende Kompilation von Kritiken unter dem Titel Kleines Theatertagebuch. Die umfangreiche Einleitung dazu, die er Kritik als Beruf nannte, müßte, wenn es mit rechten Dingen zuginge, zum Kernrepertoire journalistischer Ausbildung zählen. Viele weitere Bücher folgten. Große Pianisten unserer Zeit hat einen nahezu klassischen Status gewonnen; nirgends schrieb Kaiser so enthusiastisch-beflügelt, wie wenn es um große Klaviermusik und deren große Interpreten ging. Einen nicht minder bedeutenden Erfolg wie der schreibende Kaiser, hatte der vortragende und Rundfunksendungen produzierende Kaiser. Mit mildem ostpreußischen Akzent, der gelegentlich parodiert wurde, nahm er seine Zuhörer auf Reisen in das Innerste große Musikwerke mit. Wer diese Vorträge und Sendungen mit ein wenig Sachverstand verfolgte, der konnte nicht genug bewundern, wie es ihm gelang, auch kompliziertere und tiefergehendere Sachverhalte der Werkerläuterung und der Interpretationsanalyse so darzubieten, daß auch Zuhörer, die solchen Überlegungen vielleicht gar nicht immer gewachsen waren, nicht verprellt wurden, sondern am Ende einer solchen Sendung oder eines Vortrags das produktive Gefühl hatten, alles verstanden und alles nachvollzogen zu haben, was eigentlich über ihre Kenntnisse und Kompetenzen deutlich hinausging. Eine solche Vermittler-Fähigkeit ist eine große Gabe, die nur Wenigen verliehen ist.
Auch Joachim Kaiser war keineswegs eine unfehlbare Erscheinung. Er hatte blinde Flecken und fällte auch Fehlurteile (so verstand er von Sängern keineswegs so viel wie von Pianisten und für die Musik Gustav Mahlers konnte er sich nie wirklich erwärmen, warf ihn gar mit Sibelius in einen Topf), aber man konnte ihm auch solches nicht wirklich übel nehmen. In einem Interview des späten Kaiser wurde er einmal zur Überlegung angeregt, wie es sich anfühlen würde, wenn er für ein Konversationslexikon der weiteren Zukunft den Artikel über sich selbst verfassen könnte, und gefragt, was der Kernsatz dieses Textes sein sollte. Wie immer mußte Joachim Kaiser nicht lange überlegen. Auch wenn er immer wieder versonnen an seiner Brille kaute, um kleinere Pausen einzulegen, so hatte man doch nie den Eindruck, daß er dabei in wirkliche Reflexionsschwierigkeiten geraten könnte. In diesem Falle antwortete er: »Bekannte sich zu seiner Subjektivität, nahm Interpreten und Interpretationen sehr ernst, schien auf eine konservative Weise interessiert daran, daß die Forderungen großer Texte oder Partituren erfüllt werden.«
Das Ordentliche Mitglied der Abteilung Literatur unserer Akademie seit 1970 ist am 11. Mai 2017 in München gestorben. Joachim Kaiser hat selbst mit Entschiedenheit, Nachdruck und glanzvoller Bravour dafür gesorgt, daß wir den enormen Kritiker Joachim Kaiser nicht vergessen werden.
Jens Malte Fischer