Das Werk des am 16. Januar 2016 im 94. Lebensjahr in Wien verstorbenen Griechen Joannis Avramidis setzt Maßstäbe. Es behauptet sich in der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als unverrückbarer Block. In ihm versammeln sich Traditionen bildnerischen Ausdrucks einer jahrtausendalten mediterranen Kultur, wobei die menschliche Figur, sein zentrales Thema, radikal und neuartig von innen heraus konstruiert wird. Systematik und Gesetzmäßigkeit des künstlerischen Vorgehens erzwingen hierbei weitgehend die Ausschaltung subjektiver Willkür. Die griechische archaische und klassische Skulptur, Pierodella Francesca und Hans von Marées sind die Eckpfeiler, auf die sich Avramidis seit je mit fast anachronistischer Insistenz berufen hat, Brancusi, Lehmbruck und Schlemmer die nächsten und raren Wahlverwandten im 20. Jahrhundert, welche die Abstraktheit der Form und die Verdichtung des Figürlichen vergleichbar ins Exemplarische getrieben haben.1922 in Batum am Schwarzen Meer geboren, verschlug es den angehenden Künstler nachdem frühen gewaltsamen Tod des Vaters und entbehrungsreichen Jahren in Athen nach Wien, wo er in der Nachkriegszeit bei Robin Christian Andersen Malerei und später bei Fritz Wotruba Bildhauerei studierte.
Avramidis' Ahnenreihe ist eine klassische, wobei »klassisch« nichts Geringeres als die Vollendung einer Idee meint. Avramidis' Utopie der »Absoluten Figur« erwuchs aus dem steten Kampf zwischen den der Natur abgerungenen »Daten« und der durch die Idee gleichermaßen erzwungenen Konstruktion: Zeichnung und Skulptur als unauflösbar verflochtene Annäherung an ein ideales, die Zeiten übergreifendes Menschenbild, das es zu rekonstruieren galt. Avramidis' einzigartige Leistung gründet in der lakonischen Nüchternheit seiner bildhauerischen Vorstellung, welche die größtmögliche Objektivierung der Form konstruktiv anstrebt und dennoch nichts als deren sublimierte Sinnlichkeit meint. Es war Avramidis' Überzeugung, daß es nur noch möglich sei, in das geistige Zentrum der Bildhauerei vorzustoßen, indem das Individuelle zugunsten des Universellen preisgegeben werden müsse.
Michael Semff