Die Befähigung zum Theaterberuf verdanke sich einer ‚Mischbegabung‘, hat Jürgen Flimm einmal gesagt. Mindestens in seinem Falle hat er damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Mal wieder!
Er konnte zeichnen, schreiben, spielen, becircen, verkaufen, singen, denken, spinnen, organisieren, träumen, rechnen, lieben, dichten – es war zum schwindelig werden.
Natürlich war er daher auch – und vielleicht hatte er das eigentlich gemeint, als er von der Uneinheitlichkeit der Theaterbegabung sprach – ein ganz ‚gemischter‘, höchst widersprüchlicher Charakter:
jähzornig, liebevoll, hilfsbereit, frech, empfindsam, unverschämt, fleißig, ungerecht, energisch, gerissen, fromm, sündig, großzügig, neugierig, erfinderisch, ruhelos, treu, umtriebig, humorvoll und, und, und …
Er war als Intendant ein sozialdemokratischer Duodezfürst. Ein absoluter Herrscher – und bekennender Protestant. Ein streitbarer Vater und eine liebende Mutter. Oder andersherum. Ich bin jedenfalls nie wieder einem Intendanten begegnet, dem es wie Jürgen gelungen wäre, das Theater in eine Art Familienbetrieb zu verwandeln.
Auch darum fällt es mir schwer, oder ist es mir unmöglich, nicht persönlich über Jürgen zu sprechen, der alles Mögliche war, aber niemals unpersönlich. In diesem Sinne sehe man mir meinen Auftritt in diesem Text nach:
Ich habe viele Jahre mit Jürgen gearbeitet. Ich war Schauspieler, Regisseur und schließlich Direktions-Azubi am Thalia-Theater.
Er ließ mich für die Ruhrtriennale schreiben und inszenieren, in Salzburg spielen, in Berlin eine Oper machen und auch in seiner allerletzten Inszenierung, die coronabedingt nie herauskam, war ich mit dabei.
Was für ein Glück!
Jürgen war mein Theatervater. Mein Räuberhauptmann.
Obwohl wir oft gestritten haben, wie die Kesselflicker.
Das Streiten lag ihm – wie das Lachen. Er hatte sehr viel Witz und Humor und konnte im Notfall einen ganzen Saal unterhalten. Zugleich war er aber immer auch ein sehr Einzelner – allerdings ein einzelgängerisches Kommunikationsgenie, ein hellsichtiger Betrachter der Comédie humaine, ein mit allen Wassern gewaschener, illusionsloser Realist, der doch an das „Gute“ glauben wollte und vor allem: konnte. Diese Fähigkeit, das ‚menschliche, allzu menschliche‘ zu verstehen, zu vergeben, ja, sich mit ihm als eigentliche, zwar prosaische, aber letztlich tröstliche Wahrheit zu versöhnen und daher skeptisch gegenüber allen menschheitserziehenden Ideologien zu bleiben, zeichnete Jürgen aus. Von allen Regisseuren, mit denen ich arbeiten durfte, hatte er den unfehlbarsten Instinkt für die Realität der Figur. Die sogenannte Konzeption war für ihn die zu Ordnungszwecken selbstgeschaffene Abbreviatur – aber nie das eigentliche Anliegen. Das waren für ihn, ganz selbstverständlich, die Figuren.
„Zwischen Schauspieler und Publikum darf sich niemand dazwischenschieben. Vor allem nicht der Regisseur. Der Schauspieler ist das Medium des Theaters“, hat er mir einmal als Kritik mitgegeben.
Dabei beherrschte er das Regiehandwerk meisterlich.
Er war sehr musikalisch. Er konnte Bilder denken und realisieren.
Er wusste, wann seine Schauspieler und Schauspielerinnen Raum brauchten und wann eine Form. Er war ein selbsterklärter „Wirkungsmechaniker“. Gerne zitierte er den Riccaut de la Marliniere: „ik bin eine von die ausgelernt!“
Natürlich wusste er mit der Zeit auch alles besser – unvergesslich sein Aufschrei: „Fragt mich doch, ich weiß es doch“ –, doch genauso gut war er in der Lage, sich aufrichtig zu freuen, wenn er Gelungenes sah. Er war in der Beurteilung anderer, vor allem junger Kollegen, nie konservativ. Er konnte staunend das Fremde, Neuartige anerkennen.
Er war ein unermüdlicher Arbeiter. Der in Mode sich befindende Begriff „Work-Life-Balance“ dürfte nicht zu ihm vorgedrungen sein. Ich glaube nicht einmal, dass er wusste, dass man das eine vom anderen trennen könnte.
Er begann am Studententheater in Köln, kam 1968 an die Kammerspiele in München, zunächst als Assistent, unter anderem bei Kortner. Er war freier Regisseur und dann sehr bald Oberspielleiter in Mannheim und bei Gobert am Thalia Theater in Hamburg. Von 1979 bis 1985 war er Intendant am Schauspiel Köln, ab 1985 bis 2000 am Thalia Theater. Es folgte die Leitung des Schauspiels bei den Salzburger Festspielen (2002-2004) und danach die Intendanz der Ruhrtriennale (2005-2008), die Intendanz der Salzburger Festspiele (2006-2010) und der Berliner Staatsoper (2010-2018).
Davor, währenddessen und danach hat er auf der ganzen Welt Opern inszeniert. Von New York über London, Bayreuth, Amsterdam, Zürich, Salzburg, Wien bis nach Mailand.
Er wurde vielfach ausgezeichnet, mit dem kleinen und dem großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik, mit dem Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen, mit der Medaille für Kunst und Wissenschaft der Hansestadt Hamburg. Mit dem Ehrendoktor der Universität Hildesheim.
Er war Hochschulprofessor an der Harvard University, in New York und in Hamburg. Und Bücher hat er natürlich auch geschrieben!
Dieses beeindruckende Lebenswerk verdankt sich einer unglaublichen, eigentlich herzzerreißenden, berserkerhaften Energieleistung.
Jürgen Flimm hat mir einmal gesagt, der Wunsch Schauspieler oder Theatermensch zu werden, läge vermutlich in einem Defizit begründet. Das ewige, kindliche und unstillbare Verlangen „Schau mich an!“ sei daran schuld.
Nun, man hat ihn angeschaut. Mit Recht! Es gab sehr viel an ihm zu entdecken und zu bewundern.
Mich hat Jürgen aber am stärksten berührt, als er alt und krank wurde. Er ertrug beides mit weiser Ergebenheit. Warmherzig, fromm und – wie es mir schien – mit wehmütig-heiterer Zuversicht, oder Gelassenheit. Mischbegabt eben!
Jürgen Flimm war ein bedeutender Mann. Er hat mit ganzem Einsatz ein volles, reiches, schwieriges und anstrengendes Leben gelebt. Er hinterlässt seine geliebte Frau Susanne Ottersbach-Flimm, seine Tochter Paolina und seinen Enkel Vito.
Mit Jürgen verlässt uns auch einer der letzten Vertreter eines Theaters, das bald endgültig in Vergessenheit geraten wird.
Ich muss an die Proben zu König Lear denken. Ein Satz im Finale hatte es Jürgen besonders angetan. Der junge Hans Kremer, als Edgar, sprach ihn zu dem auf den Bühnenbrettern ausgestreckt liegenden, über 80-Jährigen Will Quadflieg und erwies so, stellvertretend für Jürgen selbst, nicht nur dem König Englands, sondern auch dem Monarchen einer versunkenen Kunst seine Reverenz.
Edgar:
The weight of this sad time we must obey;
Speak what we feel, not what we ought to say.
The oldest hath borne most: we that are young
Shall never see so much, nor live so long.
Dann fiel der Vorhang.
Und Quadflieg stand wieder auf.
Sven-Eric Bechtolf