Von den vielen Fluggästen, die am Terminal 1 des Münchner Flughafens ankommen und abfliegen, werden wohl nur wenige den Namen Keith Sonnier kennen. Begegnet sind sie einer seiner wichtigsten, architekturbezogenen Rauminstallationen beinahe zwangsläufig. Zwischen 1989 und 1992 realisierte Sonnier auf der Verbindungsebene 03 dieses Terminals einen 1,2 km langen „Lichtweg“, der die nüchterne Architektur in einen Erlebnisraum verwandelt. Durch die ständig changierenden Lichtfarben werden die Passanten, die dieses mehrdimensionale Werk gleichsam erwandern, selbst zu einem Teil der Installation. »Mir gefällt die Art, wie Licht den Raum einnimmt«, sagte Sonnier in einem Interview. Licht erzeuge durch seine Präsenz Formen und damit eine »eine durchlässige Dichte.«
Ein weiteres Werk Sonniers, die »Passage Rot Blau«, befindet sich im Zentrum Münchens in einer schmalen Gasse in der Nähe des Sankt-Jakob-Platzes und des Jüdischen Museums. Aus der Fassade des Angerhof-Komplexes ragen ein weißer Kreis und ein Quadrat, die in ihrer Mitte von blauen und roten, aus Neonröhren bestehenden Linien durchzogen werden, in die Gasse hinein. Nachts leuchten sie, bewegen sich im Winkel von 45° um die Achse ihrer Befestigungen und erfüllen die Gasse mit einer stillen, farblich akzentuierten Bewegung.
Nicht zuletzt das aufsehenerregende Werk im Münchner Flughafen und der dadurch hergestellte Bezug zur bayerischen Landeshauptstadt waren es, die die Mitglieder unserer Akademie dazu bewogen, Keith Sonnier im Jahr 2000 als korrespondierendes Mitglied zu wählen.
Geboren wurde Sonnier, der schon frühzeitig den Wunsch hegte, Künstler zu werden und sich intensiv mit zeitgenössischer Musik beschäftigte, am 31. Juli 1941 in der Kleinstadt Mamou im Herzen der »Cajun-Region« in Louisiana im Süden der USA. Nach einem Studium der Kunst und Anthropologie an der University of Southwestern Louisiana, das er 1963 mit dem Bachelor abschloss, ging er zunächst nach Paris, um dort zu malen und die europäische Kunst aus eigenem Erleben kennenzulernen. In die USA zurückgekehrt setzte er sein Studium an der Rutgers University in New Brunswick (New Jersey) fort, erwarb dort 1966 den Master of Arts und siedelte nach New York über. In der Folgezeit wurde das Licht zu seinem bevorzugten Thema und »Material«. Lichtzeichnungen in bunten Farben leuchteten aus einem scheinbar improvisierten Chaos von Kabeln, Drähten, Umhüllungen und Transformatoren. Aber auch »beiläufige« Materialien wie Fiberglas, Spiegelglas, Blei, Aluminium und Latex wurden in seinen »Mixed Media«-Objekten und Rauminstallationen zu Elementen seiner artifiziellen Sprache. In der legendären Ausstellung »Live in your head: When attitudes become form«, die Harald Szeemann 1969 in der Kunsthalle Bern kuratierte, zeigte Sonnier eine minimalistische Arbeit, den Abdruck, die »Spur«, eines vorher beschichteten Stücks Latex. In der Regel dominierten jedoch phantasievoll orchestrierte Material- und Formkompositionen eine Reihe bedeutender Einzelausstellungen in New York, Montreal, Paris, Hamburg, Bregenz und Mönchengladbach. Zweimal (1972 und 1977) nahm Sonnier an der Kasseler »documenta« teil, 1972 repräsentierte er auf der Biennale in Venedig die Kunst aus den USA und 1974 wurde er auf der Biennale in Tokio für seine Arbeit Video Still Screens I-IV mit einem Ersten Preis ausgezeichnet.
In jüngster Zeit ist erneut eine Debatte darüber entfacht worden, welche Künstler der späten Moderne einer strengen Minimal Art in Sinne der »Konkreten Kunst« zuzuordnen seien. Wenn man genauer hinschaut und die Werke in ihrer ganzen Breite und Vielfalt analysiert, entstehen selbst bei Dan Flavin, Donald Judd und James Turrell berechtigte Zweifel. Das Werk von Keith Sonnier ließ sich schon in früheren Jahrzehnten kaum in einer solchen Schublade verorten.
Wer die Ausstellung »Die Bildhauer der Akademie« 2013 in der Münchner Residenz besucht hat, lernte durch das Ensemble »The Modern Relic Series« noch einen ganz anderen Keith Sonnier kennen: einen traditionell formenden Bildhauer, dessen Objekte zwar an objets trouvés erinnern, aber aus Gips modelliert sind und auf dem schmalen Grat zwischen Figuration und Abstraktion balancieren. Durch die Kombination von Bemalungen mit Acrylfarben und Stahlstäben, die die Körper einfassen und aufrichten, wurde ein breites Deutungsfeld eröffnet. Aus zunächst unscheinbaren Objekten wuchsen Köpfe und Figuren, die so gruppiert waren, dass die Stücke miteinander korrespondierten. Ihre ästhetische Qualität gewannen sie durch ihre Farbigkeit, die archaisch anmutenden Körper und den unverkennbar surrealen Humor. Ihre Mehrdeutigkeit erlaubte es den Betrachtern, sie auf unterschiedlichen Ebenen wahrzunehmen. Mal fiel ihr Blick zuerst auf das einzelne Objekt, das auf fast unmerkliche Weise Köpfe und Gesichter assoziieren ließ, mal versuchten sie die Beziehungen zwischen den Objekten zu ergründen und ergänzten die vom Künstler bewusst fragmentarisch angelegten »Physiognomien«.
Das immer wieder aufs Neue erkundete Spannungsfeld von Natur, Kunst und Technologie, in dem von den neuesten Medien bis zu den traditionellen Werkstoffen viele raumgreifende Elemente zu einem künstlerischen Ausdruck fanden, ist charakteristisch für das gesamte Werk von Keith Sonnier.
Am 18. Juli 2020 ist er im Alter von 78 Jahren in Southampton, New York, gestorben. In der Akademie wird die Erinnerung an den eloquenten, reflektierten Künstler und sein außergewöhnlich vielgestaltiges Werk lebendig bleiben.
Andreas Kühne