Umstrittene Popularität – Unumstrittene Weltgeltung
Zum Tod von Krzysztof Penderecki (23.11.1933 – 29.3.2020)
Inwiefern können wir heute nach dem Tod des berühmtesten polnischen Komponisten des 20. Jahrhunderts von einem Individualstil dieses universellen Zeitgenossen sprechen, gar eine kurze würdigende Einführung in diesen Stil Pendereckis geben? Inwieweit fällt gerade dieser 1933 im polnischen Dębica geborene Komponist in seiner Weltberühmtheit und umstrittenen Popularität unter die 1957 von Hans Heinz Stuckenschmidt aufgezeigten Stiltendenzen der modernen Musik – als da sind »freie und gebundene Atonalität, Rückbesinnung auf Kirchentöne, neue rhythmische Verfahren, Einbeziehung der Klangfarbe, Gestaltung der Dynamik, Instrumentaltechnik jenseits der Menschenkraft, Geräuschorganisation«?1 Tatsächlich könnte hier von Penderecki die Rede gewesen sein, der damals allerdings – noch unbekannt – in seinen Psalmen Davids einerseits an Strawinsky (im ersten und dritten Psalm) andererseits an Schönberg und Webern anknüpft (im zweiten und vierten Psalm) und kurze Zeit später in der Tat die Ergebnisse elektronischer Klangerzeugung auf natürliche, orchestrale Weise herzustellen vermag, das Geräusch in »Anaklasis« und »Threnos« emanzipiert, im »Stabat Mater« den stilistischen Bogen spannt »zwischen Gregorianik und Cluster, Dur-Dreiklang und Zwölftonakkord«.2
In seiner berühmten Lukaspassion verlangt Penderecki den Chören schließlich die verschiedensten Ausdrucksarten ab: Sprechen, Schreien, Zischen, Flüstern und Lachen. Häufig werden hier die Wortsilben (wie gleichzeitig etwa bei Luigi Nono) verschiedenen Chorstimmen zugeordnet und lassen durch ihre Wiederholung eine Art dreidimensionalen Raum entstehen. Schon 1961, dem Jahr auch von György Ligetis »Atmosphères«, findet in Pendereckis »Polymorphia« ein komplizierter und expressiver Klangverlauf plötzlich eine Auflösung in einem C-Dur-Akkord, im »Stabat Mater« kulminiert ein dichtes, komplexes Klanggeschehen beim Wort »Gloria« in einem strahlenden D-Dur-Akkord. Der Effekt dieses Tonalitäten-Einbruchs kann geradezu als Beweis dafür gelten, dass Penderecki kein Neuerer um jeden Preis gewesen ist, sondern dass er eine Synthese seiner Mittel erstrebte, eine stilistische Metamorphose.
Wenn John Cage am »Punkt Null des Klangpleromas«3 der Gesamtheit allen Tönens, der Geräuschwelt und des hyperkomplexen »Geht nicht mehr« der Stille und dem gottgewollten Zufall begegnet, wenn Olivier Messiaen an diesem Punkt in die Universalität der Vogelstimmen gelangt und La Monte Young und Karlheinz Stockhausen zum endlosen Klangzustand finden, so wurde Krzysztof Penderecki zum prägenden Vorläufer von Polystilistik und Postmoderne, oder – von Reinhard Schulz 1987 etwas skeptischer formuliert – zum »Vorkämpfer des Rückzugs«.4
Schon 1976 war der Stil von Pendereckis Violinkonzert überraschend weit entfernt von der experimentellen Haltung der frühen Streicher- und Chor-Bruitismen. Aus dem Klangflächen-Musiker sei ein Melodiker geworden, schreibt der Pianist Gerhard Puchelt. Stilistisch wird dann in den großen Musiktheater-Werken ein ganzes Spektrum ausgebreitet, vom Cluster- und Klangfarbenbereich bis in die Geräuschnähe und eine auf Zentraltöne bezogene Linearität. »Sein musikalischer Pluralismus«, wie es Pendereckis Biograf Wolfram Schwinger ausdrückt, »enthält das Substanziellste der provokativen Frühwerke, die dichte kontrapunktische Arbeit, eine freie Tonalität«5 und letztlich zwei konträre Elemente: die ständige Suche nach Neuem und das in der Tradition verwurzelte formale Bewusstsein.
Das Neue könne eine starke Wirkung nur im Kontext zum Alten, zum Bekannten haben, sagte Penderecki in der bei Schott veröffentlichten, erweiterten und wirklich umfassenden Biographie von Wolfram Schwinger. Auf dem freien Feld klanglicher Phantasie ist Penderecki der stürmischste Neuerer gewesen. Damals befand sich der große ältere Landsmann Witold Lutosławski, auf gewissermaßen umgekehrtem Wege, noch in vergleichbar konventionellen Gewässern. Vielleicht, so vermutet Schwinger, hat man darum dem Jüngeren später jeden deutlich werdenden Bezug zur Tradition, »sei es auf formalem, harmonischem oder gar ›melodischem‹ Gebiet so hart zum Vorwurf gemacht.«6 Pendereckis außergewöhnlicher Erfolg, anfangs innerhalb, später außerhalb der publizistisch gestützten Avantgardezirkel, hat vielfach Skepsis und Kritik ausgelöst, seine Musik werde affirmativ, habe herrschaftsbildende Funktion und sei erst populär geworden, als er dem Stil seiner ungebärdigen Frühwerke traditionelle Elemente und religiöse Texte zugegeben habe. Der Zynismus gegenüber Pendereckis religiösem Engagement entlarvt sich allerdings selbst, hatten doch auch all die nicht liturgischen Streicher-Frühwerke ihre starke Publikumsresonanz.
In der fünfzig Jahre alten Schallplattenbeilage der Lukaspassion ist zu lesen, was Penderecki damals bei der Uraufführungs-Pressekonferenz sagte: »Ich bin Katholik. Allerdings bin ich der Meinung, dass man nicht unbedingt einer Kirche angehören muss, um religiöse Musik zu komponieren. Die einzige Voraussetzung hierfür liegt vielmehr darin, dass man gewillt ist, seine religiöse Überzeugung zu bekennen. Ohne Einschränkung darf meine Musik als ausgesprochene Bekenntnismusik betrachtet werden. In dieser Hinsicht bin ich Romantiker.«
Zwar hat Penderecki als bekennender Katholik viel religiös grundierte Musik geschrieben. Seine Suche nach Wahrheit bewegte sich zwischen mystischen Erleuchtungserlebnissen und lichter Frömmigkeit einerseits, apokalyptischen Todesvisionen, Zerfallsängsten und irrationalen, düsteren Schauern andererseits, referiert im Programmheft zur Uraufführung der 3. Sinfonie der Rundfunkredakteur Helmut Rohm, »doch seine Kritik am politischen Wirken der katholischen Kirche ließ ihn in jüngerer Zeit immer mehr Abstand nehmen von dezidiert sakralen Werken.«7
Penderecki hatte sich jedenfalls immer mehr von einer inzwischen selbst fundamentalistisch etablierten Avantgarde abgewandt, womöglich genau seit seinem direkten Kontakt mit der klingenden Materie eines Orchesters, seit er zu dirigieren begann. 1971 konnte ich Zeuge sein bei Proben und dem ersten von Penderecki selbst dirigierten eigenen Stück »Actions« in Donaueschingen. Bezeichnenderweise hatte es sich dort damals um eine Art Big Band international führender Jazzer gehandelt, und die Arbeit mit diesen emanzipierten Musikern hat den Komponisten sehr beschäftigt; die Qualität eines organischen Wachsens, eines inneren Pulses, aber auch die Wirkung eines überzeugenden Einsatzes haben Penderecki nachhaltig geprägt. Später dirigierte er alle großen Orchester der Welt, den Taktstock in der Linken; und bei der Uraufführung seiner 3. Sinfonie mit den Münchner Philharmonikern gesteht er Mitte der 1990er Jahre ein, dass ihm Probenarbeit und Orchesterleitung wesentliche »symphonische Eigengesetzlichkeiten« nähergebracht hätten, die ihn nun während des eigentlichen Komponierens an die konkreten Ausführenden, die Instrumentalisten und ihre spieltechnischen Nöte denken lassen. Es wurde ihm beim Dirigieren der eigenen Werke wichtig, dass die Musiker alles auch gerne spielten. Möglicherweise eine affirmative Hinwendung, die sich ebenfalls so beim dirigierenden Kollegen Hans Werner Henze oder seinem gleichwohl weltberühmten Landsmann Witold Lutosławski vollzogen haben dürfte.
Vor 20 Jahren nannte Penderecki für die Einordnung seiner letzten Kompositionen den Epochenbegriff Fin de Siècle, den er dem Begriff Postmoderne vorzieht – »gemein als Rückblick auf die verschiedenen, auch selbst mitgestalteten Entwicklungsprozesse des ausklingenden Jahrhunderts und als Reverenz vor dem Fin de Siécle, in dem Gustav Mahler Vergangenheit und Zukunft assimilierte«8. Die Wiederaufnahme der Errungenschaften früherer Zeiten in fein dosierter Form führten ihn zu satztechnischen Verfahren, wie sie als Metamorphose-Erscheinungen in der lebendigen Natur vorkommen. Hat Penderecki doch zu Hause einen großen Park voll verschiedener Baumarten selbst angelegt. Das Geschehenlassen und ein »naturfreundliches« Eingreifen können auch beim Komponisten beobachtet werden. So lässt sich bei ihm weniger von einem starr fixierten Personalstil als vom vielfältigen Stilwandel sprechen, war Penderecki doch auch von der stets fortschreitenden Stilveränderung eines Picasso fasziniert.
Seine im Dezember 1995 in München uraufgeführte 3. Sinfonie wurde in der Süddeutschen Zeitung als Meisterwerk, als »Idealmischung aus Mahler, Schostakowitsch und Karl Amadeus Hartmann«9 bezeichnet, während für die kritische Neue Musikzeitung Pendereckis Werk wie aus zweiter Hand klänge, wenn auch die Passacaglia des 4. Satzes als positive Erinnerung bleibe und »die relative Kargheit des Satzes der geschwätzigen Momente der anderen« entbehre, die Konzentration »von ferne verstehen lässt, warum man einst Penderecki zu den bedeutendsten Musikschöpfern der zweiten Jahrhunderthälfte rechnete«.10
Einer der bekanntesten und bedeutendsten Komponisten der Gegenwart, seit 1998 korrespondierendes Mitglied unserer Akademie, ist Ende März 2020 86-jährig in Kraków gestorben.
Peter Michael Hamel
1 H. H. Stuckenschmidt: »Schöpfer neuer Musik«, München 1957.
2 J. Häusler, zitiert nach W. Schwinger: »Penderecki – Leben und Werk«, Mainz 1994.
3 Zitiert nach J. Kostelanetz: »Gespräche mit John Cage«, Köln 1982.'
4 R. Schulz, in: Neue Musikzeitung, Mai/Juni 1987.
5 Schwinger: a.a.O., S. 205 f.
6 Schwinger: a.a.O., S. 151.
7 H. Rohm: »Suchen, Finden«, in: Programmheft der Münchner Philharmoniker zur UA der 3. Sinfonie von Penderecki, Dezember 1995, S. 8.
8 W. Schwinger: a.a. O., S. 155.
9 K. Bennert: »Kreative Synthese«, Uraufführungskritik der 3. Sinfonie, Süddeutsche Zeitung vom 10.12.1995.
10 Reinhard Schulz: »Ein wahrer Koloss …« Uraufführungskritik der 3. Sinfonie, Neue Musikzeitung Feb./März 1996, S. 50.