Straße der Entgrenzung
Wer in den Viten bekannter deutscher Bildhauerinnen und Bildhauer der mittleren Nachkriegsgeneration nach deren akademischen Lehrern sucht, wird mehrfach auf den Namen Leo Kornbrust stoßen. Kornbrust, der 1929 in St. Wendel im Nordosten des Saarlands geboren wurde und nach einer Schreiner- und Holzbildhauerlehre in der Bildhauerklasse von Toni Stadler an der Münchner Kunstakademie studiert hat (1951–1957), lehrte später selbst an dieser Akademie (1978–1994). Doch zunächst arbeitete er nach seinem Studium als freischaffender Bildhauer und reiste viel – vor allem nach Griechenland und in die westlichen Mittelmeerländer –, um seinen Blick zu erweitern. 1960 kehrte er in seine saarländische Heimat zurück, die ihm so viel bedeutete und der er zeitlebens verbunden blieb.
An die Münchner Kunstakademie berufen (1978), prägte er die Studenten seiner Klasse durch seine künstlerische Haltung, sein stetiges Ringen um die Form und seine menschlichen Qualitäten. Auch noch Jahrzehnte nach seiner Emeritierung sprachen und sprechen die ehemaligen Absolventen mit Hochachtung und Wertschätzung von ihrem früheren Lehrer. Anders als einige seiner Kollegen an der Münchner Akademie in der Nachkriegszeit gehörte er nie zu den „Traditionalisten“, die die figürliche und gegenständliche Darstellung weiterhin für das non plus ultra der Skulptur hielten. Aber auch als „Konstruktivist“ lässt er sich nur bedingt bezeichnen, da seine Basalte, Sandsteine, Granite, Bronzen und Stahlplastiken keine technische oder technoide Anmutung haben, sondern organischen, aus der Natur abgeleiteten, häufig auch menschlichen Proportionen entsprechen. Besonders in seinem späteren Schaffen arbeitete er in der Regel mit Graniten und Basalten, die er polierte oder durch ihre natürliche Oberfläche sprechen ließ.
Die Formen des menschlichen Körpers reduzierte, zerlegte und abstrahierte Leo Kornbrust so weit, bis nur noch die Erinnerung an sie zurückblieb. Dennoch gab er das „Menschenbild“ als Gegenstand, Leitbild und Orientierungsmaß nicht auf. Nicht zuletzt wurden die Figuration und das „Menschenbild“ in verwandelter Form bewahrt durch ein Prinzip, das der Künstler in Anlehnung an den von dem englischen Philosophen Shaftesbury (1671–1713) und von Goethe geprägten Begriff „innere Form“ die „innere Linie“ genannt hat. Einerseits ist diese Linie eine immaterielle, innere Ausrichtung der Plastik, ein flexibles inneres Gerüst oder Skelett. Andererseits diente sie als Metapher, die Leo Kornbrust dabei half, seine Skulpturen im öffentlichen Raum so zu platzieren, dass sie auf den umgebenden Raum reagieren und einen Dialog mit seinen Architektur- und Naturelementen führen.
„Saxa loquuntur“ (Die Steine reden) könnte ein Leitmotiv für einen wesentlichen Teil des Werkes von Leo Kornbrust sein. Seine Steine sprechen durch ihre Form und ihr Material, dessen Möglichkeiten er häufig bis an seine Grenzen auslotete, aber sie sprechen auch unmittelbar mit Worten zu uns. In der Regel sind es Sätze, die aus dem literarischen Werk seiner Ehefrau und Weggefährtin Felicitas Frischmuth (1930–2009) stammen und die Kornbrust mit dem Sandstrahl oder dem Vidia-Griffel in seine polierten Steinstelen schrieb. So wie in der Vergangenheit Inschriftensteine, vor allem in Form von Epitaphien, „für die Ewigkeit“ aufgerichtet wurden, um den Nachgeborenen etwas mitzuteilen, ist für Kornbrust der Stein zum Medium verbaler Botschaften geworden, die auch eine räumliche Dimension besitzen. Wohl jeder Besucher des Münchner Hofgartens kennt den schwarzen polierten Granitquader mit Zitaten von Menschen, die sich gegen das NS-Regime aufgelehnt haben. Mit seiner schlichten geometrischen Form lädt der Stein, der 1996 zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus aufgestellt wurde, zum Nachdenken ein und korrespondiert zugleich mit dem Mahnmal für die Toten des Ersten Weltkrieges, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet. Kornbrusts Denkmal stellt sich einem förmlich in den Weg.
Weitere bekannte Skulpturen, die als Träger von Texten dienen, sind seine Steinstelen vor dem Saarlandmuseum in Saarbrücken und am Münchner U-Bahnhof Brudermühlstraße sowie der achteckige Obelisk in der Berliner Straße im Münchner Stadtteil Schwabing.
Von der Kraft der Kunst, nationale und ethnische Grenzen überwinden zu können, wird heute viel gesprochen. Leo Kornbrust hat sie schon früh zu einer künstlerischen Praxis werden lassen. Angeregt von den ersten internationalen Bildhauersymposien, die seit 1959 im burgenländischen St. Margarethen stattfanden und an denen er wiederholt teilnahm, begründete er 1971 im heimatlichen St. Wendel ein eigenes Bildhauersymposium. Als materielle Zeugnisse des künstlerischen Austauschs und eines transnationalen Diskurses entstanden dort in der Folgezeit 57 Skulpturen von Bildhauern aus 11 Ländern, die heute eine „Straße der Skulpturen“ bilden. „Kein Zaun, keine Mauer“, der Titel eines Gedichtes von Felicitas Frischmuth, könnte als Motto dieser „Straße“ dienen, die Leo Kornbrust als Hommage an den von ihm verehrten, 1943 im Konzentrationslager Lublin-Majdanek ermordeten jüdischen Künstler Otto Freundlich verstand. Freundlich hatte bereits in den 1920er Jahren die Idee einer völkerverbindenden europäischen Skulpturenstraße entwickelt, die aber aufgrund der Zeitumstände nicht realisiert werden konnte. 2004 gliederte Leo Kornbrust durch die Gründung der „Otto Freundlich Gesellschaft“ als Trägerverein die Saarländer Skulpturenstraße in eine größere länderübergreifende „Straße des Friedens“ ein, die sich – wenngleich noch mit größeren Lücken – von Spanien bis Moskau erstreckt.
Am 20. Juli 2021 ist Leo Kornbrust, der seit 1999 korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste war, in St. Wendel gestorben. Die von ihm geformten Steine, sein der Völkerverständigung dienendes Skulpturenprojekt und seine Akademiekollegen werden auch künftig von ihm sprechen.
Andreas Kühne