Lorin Maazel (1930–2014) hat das Musikleben Münchens über viele Jahre hinweg geprägt. Schon in den 1950er Jahren wurde Lorin Maazel regelmäßig von Karl Amadeus Hartmann für die musica viva, die renommierte Konzertreihe für Neue Musik beim Bayerischen Rundfunk, eingeladen. In dieser Zeit bedeutete Neue Musik in erster Linie, die einst verfemte Musik wieder aufzuführen. Daher dirigierte der 26jährige Lorin Maazel in seinem ersten musica viva-Konzert am 29. Januar 1957 Werke von Dallapiccola (Canti di prigionia), Strawinsky (Chant du rossignol) und Bartók (Der wunderbare Mandarin). Die Süddeutsche Zeitung titelte: »Begegnung mit einem jungen Meisterdirigenten«. Schon damals wurden »unheimliche Präzision und Exaktheit« hervorgehoben, die jedes seiner Konzerte zu einem beeindruckenden Erlebnis machten – bis zuletzt.
Als ihn sein kometenhafter Karriereaufstieg in alle bedeutenden Musikzentren der Welt führte, dirigierte er seltener in München. Für einen längeren Zeitraum kam er erst 1993 als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks wieder und faszinierte die Konzertliebhaber in diesen zehn Jahren mit seinen großen Komponistenzyklen: Beethoven, Brahms, Bruckner, Schubert, Mahler und Strauss. Und nochmals durften seine Münchner Verehrer wunderbare Konzerte unter seiner Leitung erleben: Vom Jahr 2010 an bis zu seinem Tod leitete er die Münchner Philharmoniker.
Selbst unter den bedeutendsten Dirigenten galt Lorin Maazel als bester Schlagtechniker, der seine Musiker sicher durch die kompliziertesten Partituren führte, präzise Zeichen setzte und im Konzert so richtig zu zaubern begann. Dem Publikum, das seine Gesten verfolgte, wurden die Kompositionen auf diese Weise sehr viel näher gebracht, denn Lorin Maazel verdeutlichte nicht nur die Themeneinsätze, sondern hob auf diese Weise auch die Werkstruktur hervor. Nie wurde Entscheidendes überdeckt, das Werk blieb unter seinem Dirigat klar strukturiert und transparent. Sein unglaubliches Gedächtnis frappierte außerdem, denn er hatte alle Partituren im Kopf, Note für Note, alle Einsätze und Taktwechsel – nur ganz selten dirigierte er mit Noten.
Lorin Maazel, der neben Dirigieren und Geigenspiel auch Mathematik, Philosophie und Sprachen studiert hatte, war ein Intellektueller am Pult. Er selbst bezeichnete sich aber nur als Musikliebhaber: »Als Interpret bin ich in erster Linie Musikliebhaber. Meine Liebe zur Musik erzeugt die Energie, die für jeden Moment des Dirigierens notwendig ist. Es ist nicht schwer, beispielsweise Beethovens Musik zu lieben; sie aufzuführen, stellt hingegen hohe Anforderungen. Ich dränge der Musik keine willkürlichen Vorstellungen auf, sondern höre einfach zu und reagiere auf die Vielseitigkeit Beethovens: auf seine Leichtigkeit, seinen Sinn für Schönheit, sein Bedürfnis, in Tönen zu grübeln und zu meditieren, seine allumfassende Leidenschaft, seine Wut, seinen Trotz, seine Zärtlichkeit, seinen Einklang mit der Natur und seiner Sehnsucht. Gleichzeitig reagiere ich als professioneller Musiker auf Beethoven als professionellen Tonsetzer, auf seinen gekonnten Einsatz kompositorischer und koloristischer Mittel.« (Zitiert nach Renate Ulm: Die 9 Symphonien Beethovens, Kassel 1994)
Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten auf so vielen Gebieten haben immer auch Argwohn hervorgerufen, der in der oft zitierten Bemerkung gipfelte, seine Interpretationen seien kalt, es fehlte ihnen das Herzblut. Der Schreiber dieser Zeilen kann dies nicht bestätigen, für ihn zählten die Konzerte mit Lorin Maazel zu den beeindruckendsten Musikerlebnissen, die er miterleben durfte – und nicht nur mit Igor Strawinskys Sacre du printemps.
Seit 2000 war Lorin Maazel Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Wilfried Hiller