Mit Louis Andriessen haben wir eine der interessantesten und eigenwilligsten Stimmen der zeitgenössischen Musik verloren.
Andriessen, der 1939 in eine musikalisch hochkreative Familie hineingeboren wurde (sowohl sein Vater als auch seine Geschwister waren Komponisten), hat ein ungemein vielschichtiges Werk von Instrumentalmusik bis zum Musiktheater hinterlassen, sehr oft in ungewöhnlichen und noch nie dagewesenen Besetzungen, die in ihrer Konzeption und Klangwirkung bis heute einmalig sind. Beispielhaft zu nennen wären hier zum Beispiel sein bekanntestes Werk De Staat (nach Zitaten Platons) für 4 Sängerinnen, 4 Oboen, 4 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, 2 Harfen, 2 elektrische Gitarren und 1 Bassgitarre sowie 2 Klaviere und 4 Bratschen, oder auch De Materie für Sopran, Tenor, 2 Sprecherinnen, verstärktes Vokaloktett und verstärktes Orchester (bestehend aus 15 Holzbläsern, 13 Blechbläsern, 2 E-Gitarren, 2 E-Pianos, 2 Synthesizern, 6 Schlagzeugern und elektrischer Bassgitarre).
Allein schon die Wahl dieser Besetzungen bewirkte, dass Andriessen es in Ländern mit einem eher konservativ geprägten klassischen Musikleben naturgemäß schwer hatte. Gerade in Deutschland ist Andriessen daher nicht so bekannt, wie es seinem Rang als Komponist eigentlich zustünde, denn in ein normales Symphoniekonzert passen Besetzungen dieser Art nur mit großem Aufwand hinein, eher eignen sie sich für Aufführungen auf Spezialfestivals oder an Musikuniversitäten. Daher verwundert es nicht, dass die Musik Andriessens z. B. besonders in den USA oder in England auf Widerhall stieß und dort einen immensen Einfluss auf die junge Generation ausgeübt hat. In seinem Geburtsland Holland, in dem er bis zu seinem Tod lebte, gilt er sicherlich als international bekanntester Komponist der Nachkriegszeit und hatte enormen Einfluss auf die junge Generation, der bis heute anhält. In Deutschland steht seine wirkliche Entdeckung trotz zahlreicher Aufführungen seiner Werke dagegen nach wie vor aus, vielleicht auch weil Andriessen sich sehr früh von der Dominanz der sogenannten „Darmstädter Schule“ emanzipierte und deren dogmatischsten Vertreter auch immer wieder gerne kritisierte.
Andriessen begann als Neoklassizist unter dem Einfluss vor allem Strawinskys, darauf folgte dann eine intensive Beschäftigung mit dem Serialismus, den er in der Folgezeit zunehmend mit Einflüssen aus Popularmusik und Jazz bereicherte, hierbei durchaus einen nicht unähnlichen Weg wie Bernd Alois Zimmermann gehend, vor allem was Andriessens lebenslanges Interesse an Philosophie und dem Phänomen der „Zeit“ angeht. Ähnlich wie bei Zimmermann wuchsen auch in Andriessen zunehmend Zweifel daran, ob der Weg in die komplette Abstraktion erstrebenswert sei, zu groß war sein Interesse an außereuropäischer Musik und vielfältigsten anderen Musikstilen.
Sein persönlicher Kompositionsstil wurde manchmal als eine Art „serieller Minimalismus“ bezeichnet. Anders als zum Beispiel Philip Glass oder Steve Reich benutzte Andriessen selten klar erkennbare Patterns in seiner Musik, stattdessen folgen seine musikalischen Konzeptionen oft einer unerbittlichen und schroffen Konstruktion und verweigern sich der oberflächlich „üppigen“ Klangwirkung, die vieler Minimal Music zu eigen ist, vor allem was die Wahl des Tonmaterials angeht, das bei ihm oft streng organisiert ist. Verzierungen und „Parfüm“ sind daher Andriessens Musik vollkommen fremd – das „Minimalistische“ darin ist eher eine Art Selbstbeschränkung auf das absolut Notwendige, die bei ihm ganz sicher von seinem Vorbild Strawinsky kommt. Die dynamische Unerbittlichkeit seiner Musik (die sich oft im lautesten forte abspielt) mag man fast als calvinistische Schroffheit empfinden, sie wird aber unterlaufen von Andriessens Sinn für Humor und seiner Liebe für den Drive und der Spontaneität guter Pop- und Jazzmusik. Sie wirkt dadurch stets zugänglich, ist gleichzeitig „geordnet“ und dennoch „frei“, kann von einem Publikum „gelesen“ werden, ohne sich dabei je anzubiedern oder simpel gefällig zu machen.
In späteren Jahren wurde seine Musik weicher und poetischer, in diese Zeit fallen die meisten seiner Werke für Musiktheater (viele davon in Zusammenarbeit mit Peter Greenaway), auch zur deutschen Gegenwartsliteratur gibt es eine Verbindung mit der Oper Theatre of the World und dem Werk Mysterien für Orchester, die beide auf seine Bewunderung für Helmut Krausser zurückgehen, der für die Oper Theatre of the World auch das Libretto schrieb.
Es überrascht nicht, dass Andriessen sich politisch eher links artikulierte, wodurch er auch immer wieder aneckte, auch in seiner Heimat. Das auch in Holland sehr bürgerliche Musik-Establishment war oft Ziel seiner Kritik, auch einer der Gründe, warum er sich mit seinen Besetzungen bewusst der normalen Konzertpraxis entzog. Wie es oft passiert, überschüttete ihn aber gerade dieses Establishment genau dann unverhofft mit zahlreichen Ehren, als der internationale Erfolg seiner Musik nicht mehr zu übersehen war.
Andriessen war als Kompositionslehrer sehr einflussreich und begründete das, was man heute die „Den Haager“ Schule nennt, zu den wichtigsten seiner Schüler gehören zum Beispiel Michel van der Aa, Richard Ayres und Steve Martland, die alle auf ihre Weise seine Ideen kongenial fortsetzten (wobei der Einfluss des Lehrers unüberhörbar ist).
Andriessen war ein scharfzüngiger und hochintelligenter Beobachter der Kulturszene und in Diskussionen für seinen Witz und seine rhetorische Brillanz gefürchtet, daher waren Begegnungen mit ihm immer etwas sehr Besonderes. Gleichzeitig war er dem Leben äußerst zugewandt, genoss Freundschaften und lange Gespräche, vor allem gutes Essen und die Gesellschaft interessanter Menschen.
Nachdem sich sein Gesundheitszustand seit den 10er Jahren dieses Jahrtausends zunehmend verschlechterte, wurde sein Output spärlicher, versiegte aber erst endgültig 2019, als er öffentlich ankündigte, sich nun als Komponist zurückzuziehen. Nicht lange darauf – am 1. Juli 2021 – verstarb er in seinem geliebten Amsterdam.
Er hinterlässt ein großartiges und beeindruckendes Werk, das uns zweifellos noch lange beschäftigen wird.
Moritz Eggert