Am 30. Juni 2020 ist der große deutsche Musikwissenschaftler Ludwig Finscher, seit 2008 ordentliches Mitglied unserer Akademie, in Wolfenbüttel gestorben, im Jahr seines 90. Geburtstags. Am 14. März 1930 wurde er in Kassel geboren, das für ihn zu einer Art Schicksalsort werden sollte, an den ihn jahrzehntelang öfter, als ihm lieb war, Reisen vom Arbeitstisch hinwegzwangen. Denn Kassel war der Ort der magischen Chiffre MGG, der gewaltigen Enzyklopädie »Musik in Geschichte und Gegenwart«, deren Neuauflage von ihm als Herausgeber betreut wurde und von der er manchesmal frei nach Heine sagen und seufzen konnte: »Denk an die MGG ich in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.« Daß seine aufopferungsvolle Arbeit an ihr mit einer schreienden Dissonanz endete, da sich der Verlag am Schluß nach seiner Ansicht unzulässig in seine Herausgeberkompetenz einmischte, so daß er zur feierlichen Präsentation der abgeschlossenen Enzyklopädie aus Protest nicht erschien, ist der tragische Schlußakkord eines Lebenswerks gewesen, den Finscher sich in seinem weltüberlegenen Humor freilich zu überhören zwang.
Einige Daten aus seiner Vita: Finscher studierte und promovierte 1954 bei Rudolf Gerber in Göttingen, und zwar mit der wegweisenden Dissertation über Loyset Compère, die ihn mit einem Schlage in der musikwissenschaftlichen Welt berühmt machte, zumal er sie selber – ein wohl singulärer Fall – ins Englische übersetzte. Die Göttinger Studienzeit Finschers wurde nicht zuletzt durch den Freundeskreis geprägt, der in der deutschen Musikwissenschaft und Musikschriftstellerei der letzten Jahrzehnte so unverlierbare Spuren hinterlassen hat: Ich nenne neben Finscher nur die Namen Carl Dahlhaus, Rudolf Stephan und auch Joachim Kaiser. Ohne diesen Göttinger Freundeskreis der fünfziger Jahre hätte die Musikwissenschaft und Musikkritik der nächsten Jahrzehnte ein anderes, sagen wir es offen: ein wesentlich unbedeutenderes Gesicht erhalten.
Nach seiner Promotion wirkte Finscher zunächst als freier Journalist, sodann als Assistent von Walter Wiora an den Universitäten Kiel und Saarbrücken, wo er sich 1968 mit dem bis heute unersetzlichen Standardwerk über die Entstehung des klassischen Streichquartetts habilitierte. Dissertation und Habilitationsschrift umschreiben thematisch die beiden Bereiche, die als die eigentlichen Haupt- und Spezialgebiete Finschers bezeichnet werden können: die Musik des 15./16. Jahrhunderts und die Wiener Klassik. Freilich reichten sein Interesse und seine Forschungsarbeit weit über diese beiden Epochen hinaus. Grundlegende Studien von ihm betreffen auch etwa – ich greife beliebig einige Beispiele außerhalb jener Hauptgebiete heraus – die Musik des Spätmittelalters, Händel, den von ihm Vielgeliebten, der ihm im Grunde mehr bedeutete als Bach, und Telemann, Webers »Freischütz« und Aubers »La Muette de Portici«, Richard Wagners »Rheingold«-Vorspiel und Johannes Brahms, Richard Strauss, für den er eine in Kreisen der deutschen Musikwissenschaft seinerzeit unübliche Sympathie und Bewunderung hegte – seine »Kitschecke«, wie er gerne sagte – und Paul Hindemith. Als Höhepunkt seines publizistischen Schaffens aber wird man vielleicht sein Buch über Joseph Haydn (2000) ansehen dürfen, das wohl bedeutendste, das es über den – Finscher wie kaum ein anderer nahestehenden – Komponisten gibt, dem er hochsymbolisch auch seine letzte Vorlesung in Heidelberg im Jahre 1995 gewidmet hat.
Nicht zu vergessen aber ist auch sein Aufsatz über den immer noch verkannten – aber dem geneigten Leser selbstverständlich durch einprägsame Hörerinnerungen wohlbekannten – Komponisten Otto Jägermeier in der Festschrift zum 40. Geburtstag von Egon Voss. Finscher hat die Jägermeier-Forschung im wahrsten und vieldeutigsten Sinne in schwindelerregende Höhen emporgesteigert, indem er die sinfonischen Dichtungen des Wahl-Madagassen überzeugend auf die Erfahrungen des Bergsteigers zurückführt – sowohl Jägermeiers als auch Finschers selber, der ein leidenschaftlicher Bergwanderer und Mitglied des Deutschen Alpenvereins war. Zu einer Gesamtausgabe Jägermeiers ist es leider nicht mehr gekommen. Wer wäre da als Herausgeber kompetenter gewesen als Ludwig Finscher, der als Editor der »Opera omnia« von Loyset Compère sowie Mitherausgeber und Bandbearbeiter der Neuen Mozart-Ausgabe, der Gluck- und Hindemith-Ausgabe und anderer editorischer Unternehmen eine reiche herausgeberische Ernte eingefahren hat.
In bewegter Zeit – 1968 – wurde Finscher als Leiter des Musikwissenschaftlichen Instituts an die Universität Frankfurt berufen. Hier fand kurz vor dem Tode Adornos (1969) jenes legendäre Schönberg-Seminar Finschers mit dem ständigen Gast Theodor W. Adorno statt, das für ihn zweifellos der Höhepunkt seiner Universitätslehrerfahrungen gewesen ist. Die Frankfurter Jahre waren gleichwohl schwere Jahre für Finscher, so daß er 1981 die Berufung an die Universität Heidelberg als Einzug ins Paradies empfunden haben mag. Vierzehn Jahre residierte – man darf es so nennen – Finscher in dem wunderschönen Palais in der Augustinergasse am Universitätsplatz mit seinem zauberhaften Innenhof. Dort fand an einem prächtigen Sommerabend des Jahres 1995 aus Anlaß seiner Emeritierung das denkwürdige Abschiedsfest für ihn statt – mit einem beispiellosen Aufgebot musikwissenschaftlicher Prominenz aus dem In- und Ausland, vor allem aber auch mit viel Wein, Weib und Gesang und dem begleitenden Vogelgezwitscher von Dächern und Bäumen in Deutschlands ältester und schönster Universitätsstadt.
Daß Finscher seit seiner Emeritierung, frisch vermählt, nach Wolfenbüttel zog, in das ihm nach wie vor vertrautere Norddeutschland, dessen kühles Klima er gern gegen das zur Faulheit reizende dämpfig-tropische Sommerwetter in Heidelberg ausgespielt hat, erfüllte seinerzeit Heidelbergs Geisteswissenschaftler und Studenten mit Trauer, so zumal den hier Lobsingenden, der sich nach so vielen unvergeßlichen gemeinsamen Seminaren förmlich verwaist vorkam. Finscher war ein hinreißender akademischer Lehrer, der durch sein unerschöpfliches musikgeschichtliches Wissen, durch hintergründigen Humor, Güte und Bescheidenheit, zumal durch seine überaus lebendigen Vorlesungen die Studenten immer von neuem bestrickte.
Seit ich 1988 an die Universität Heidelberg berufen wurde, habe ich fast jedes Sommersemester ein Seminar mit Ludwig Finscher für Studenten der Musik- und Literaturwissenschaft gehalten. Um Thomas Manns »Doktor Faustus« ging es da, um Strauss und Hofmannsthal, Wagners »Ring«-Tetralogie oder – in Finschers letztem Semester – um »Faust und die Musik«. Bei der Planung dieser Seminare gab es immer dasselbe Ritual. Ich schlug das Thema vor, Finscher schaute mich verblüfft und entsetzt an und fragte: »Ja, glauben Sie denn, daß ich etwas davon verstehe?« Und wenn ich das emphatisch bejahte, sagte er: »Na gut, wenn Sie meinen – aber es ist Ihr Risiko.« Ich schmeichle mir mit der Illusion, daß diese Seminare auch für ihn eine erfreuliche Erfahrung waren, denn in ihnen konnte er nach Herzenslust dem frönen, was für ihn zu den wichtigsten Aufgaben der musikwissenschaftlichen Forschung gehörte: ihre Einbettung in die allgemeine Kultur-, Geistes- und Sozialgeschichte, wie sie von den Musikwissenschaftlern, die er am meisten schätzte – wie Carl Dahlhaus und Thrasyboulos Georgiades – auf höchstem Niveau geleistet worden ist. Um interdisziplinäre Fragen, um den Zusammenhang der Musikgeschichte mit der Kultur-, Institutions- und Gesellschaftsgeschichte kreisen ja auch Finschers Publikationen immer wieder.
In unseren Seminaren war es auffallend, wie oft er die Partei der Literatur ergriff, ich hingegen die der Musik. Als wir einmal die Aufnahme eines rezitierten »Rosenkavalier« abspielten, u. a. mit Helmut Qualtinger als Ochs, konnte er kaum seine Rührung verbergen und meinte, das alles sei doch ohne Musik viel schöner. Der komische Gipfel unserer Seminare war eine Sitzung, in der wir mit verteilten Rollen ein Gespräch zwischen Peter von Matt und Marcel Reich-Ranicki über das Opernlibretto lasen, ich den Kritiker lispelnd, Finscher mit dem von ihm unnachahmlich beherrschten Schweizer Dialekt den Züricher Germanisten rezitierend.
Seit dem Tode von Dahlhaus war Ludwig Finscher der ungekrönte Kaiser der deutschen Musikwissenschaft, zumindest aber ihr unbestrittenes Zentralhirn. Daß er seit 1994 als einziger deutscher Musikwissenschaftler Mitglied des Ordens Pour le Mérite war und 2006 gar den Balzan-Preis erhielt, der auf einmal ungeahnte Geldströme in sein Haus fließen ließ, worüber er sich kindlich freute, war mehr als angemessen. Es dürfte kaum einen Musikologen gegeben haben, der über eine so stupende Kenntnis aller wesentlichen Entwicklungen und Persönlichkeiten seines Fachs verfügte. Zugleich aber war er ein nicht selten recht ironischer Kritiker dieses Fachs. Es scheinen mir vor allem drei Dinge zu sein, die ihm an seinen Fachkollegen oft mißfielen: einmal war es die Isolation der Musik von ihren Kontexten, die nach seiner Ansicht z. B. dazu führe, daß eine der wichtigsten Erscheinungen der Musikgeschichte, nämlich die Oper, fast nie adäquat analysiert werde (wie das weitgehende Fehlen einer Donizetti-Forschung zeigt), weil dazu nun einmal auch die kompetente Einsicht in die Strukturen des Librettos und der szenischen Dramaturgie gehören, zum anderen die oft fehlende Phantasie in der rein musikalischen Analyse und drittens die Tatsache, daß allzu viele Musikwissenschaftler zu ihrem Gegenstand keinen elementaren Bezug haben, kaum in Konzerte und Opern gehen und sich wie Sir Henry Morosus am Schluß von Richard Strauss' »Schweigsamer Frau« zu sagen scheinen: »Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist.«
Finscher hingegen war ein musikalischer Analytiker aus Leidenschaft. Man mußte deshalb in Kauf nehmen, daß er auch harsche Kritik selbst an den größten Komponisten übte, an Debussy etwa oder Puccini. Wer einmal erlebt hat, wie er improvisierend und mitsingend eine Partitur auslegte, vergißt das nicht wieder. Hätte Thomas Mann ihn gekannt, er hätte ihn gewiß in den »Doktor Faustus« verpflanzt. Man hatte da oft den Eindruck, daß er die Werke bei der Analyse mit- oder nachkomponierte. Ich erinnere mich an einen Moment unseres gemeinsamen »Ring«-Seminars. Bei aller Bewunderung und Faszination war ihm Wagner im Grunde doch fremd. Da schaute er einmal voller Gram in die Partitur der »Götterdämmerung«, schüttelte den Kopf über ihr verschlungenes semantisches Beziehungsgeflecht und seufzte: »Ich könnte so nicht komponieren.« Doch auf einmal erhellte sich sein Gesicht: »Wie wohl Mozart diesen Text vertont hätte?« Und dann sang er allen Ernstes Wagnersche Stabreimverse mit Mozartischer Anmut.
Ein Kabinettstück war seine Analyse des Vorspiels zum »Rosenkavalier«. Wer einmal dabei war, wird mir zugeben: das war fast so schön, wie wenn Carlos Kleiber das Vorspiel dirigierte. Finscher war weit mehr ein Mann des lebendigen Worts als der Schrift, und so sind so manche seiner mündlich improvisierten Partitur-Exegesen für die Nachwelt leider verloren. Er war halt der strengste Kritiker seiner selbst, der nur das zu Papier brachte, was er für unbedingt notwendig hielt. Diese Selbstkritik hat auch jahrelang die Sammlung seiner wichtigsten Aufsätze verzögert, um die sich Hermann Danuser so verdienstvoll bemüht hat. Während die meisten Wissenschaftler sehr viel mehr von sich selber halten als ihre Fachkollegen, war das bei Finscher genau umgekehrt.
Einmal stritt ich mich mit ihm über Miloš Formans »Amadeus«-Film, den ich rundum ablehnte, während Finscher ihn lebhaft verteidigte. Schließlich fand ich heraus, was ihn an dem Film fesselte: Er sah in ihm den Spiegel eines autobiographischen Problems. »Salieri«, so sagte er, »das bin nämlich ich, und Mozart – das ist Carl Dahlhaus. Wo immer ich hinkam – Dahlhaus war vorher schon da.« Bei aller Bewunderung für Dahlhaus – der Vergleich hinkt. Ein Salieri à la Shaffer oder Forman war der großherzige Gelehrte Finscher, der so vorbehalt- und neidlos andere Gelehrte bewundern konnte, beileibe nicht. Nein – ein Stück Mozart steckte auch in Ludwig Finscher, der gerade für diesen Komponisten Unvergessenes getan hat.
Ich möchte mit einer Erinnerung schließen: Vor Jahren nahm Ludwig Finscher als Keynote Speaker an einem Bach-Symposion in Berkeley teil. Ich war zufällig, was er nicht wußte, zu der Zeit auch in Kalifornien und konnte das Schlußkonzert der American Bach Soloists mit diversen Kantaten besuchen. Als er auf den Konzertsaal zuschritt, sprang ich plötzlich hinter einer Säule hervor und photographierte ihn mit Blitzlicht. Das Photo mit seinen schreckhaft aufgerissenen Augen habe ich noch. Dann begaben wir uns in den Saal und saßen nebeneinander. Es war ein Konzert von unbeschreiblicher Öde. Als ich mit dem Schlaf kämpfend zur Seite schaute, sah ich Finscher ebenfalls mißvergnügt dreinschauen. Und er sagte: »Ich liebe Bach ja ohnehin nicht besonders – aber dann noch derart langweilig im Originalklang geboten, nein!« Doch das Orchester war auf eine glänzende Idee gekommen. Es forderte das Publikum bei der letzten Kantate auf, in den Schlußchoral einzustimmen. So sangen Ludwig Finscher und ich lauthals »soli Deo gloria« mit. Und auf einmal erfüllte sich das Konzert mit echtem Leben.
Ein wahrer Jammer ist es, daß ihn seine nachlassenden Kräfte in den letzten Jahren hinderten, an den Veranstaltungen unserer Akademie teilzunehmen. Doch werden wir ihn gleichwohl als eine der originellsten und liebenswertesten Persönlichkeiten unseres Musiklebens nicht vergessen.
Dieter Borchmeyer