Der Architekt sollte ein vielseitig gebildeter, ethisch handelnder und sozial denkender Mensch sein. Das könnte man als die Grundhaltung des bekennenden Sozialisten Luigi Snozzi bezeichnen, die er all denen, die bei ihm studierten, auch vermitteln wollte, darunter übrigens Jacques Herzog und Pierre de Meuron. Noch 2018, bei der Verleihung des Prix Meret Oppenheim, sagte er, dass ein Architekt ohne Ethik und Moral eine Gefahr für die Allgemeinheit sei.
„Weiche der Verantwortung nicht aus. Setze dich mit der Form auseinander, in ihr wirst du den Menschen wiederfinden“, lautete entsprechend einer seiner bekannten Aphorismen. Luigi Snozzi fühlte sich der Humanität verpflichtet. Er war kein Architekt für Bauten, die materiellen Reichtum und gesellschaftliches Ansehen repräsentieren, sondern er stellte den Menschen ohne Privilegien in den Mittelpunkt seines Handelns: „gli sfruttati“, die Unterdrückten, wie der ebenso schlanke wie kraftvolle Mann sie nannte, der aufrecht und zuweilen unerbittlich sein berufliches Selbstverständnis praktizierte und der jüngeren Architektengeneration ins Stammbuch schrieb: „Jeder Eingriff setzt eine Zerstörung voraus, zerstöre mit Verstand und mit Freude!“
Seine Projekte zeugen von seinem sozialen Engagement: Eindrucksvoll in Monte Carasso. Dort, im Tessin, im Westen von Bellinzona, setzte er seit 1977 seine städtebaulichen Vorstellungen um. Unter der Leitung des Architekten wurde der Ort am Fuß der steilen Berge, aus dem viele Menschen weggezogen waren, neu strukturiert und revitalisiert. Snozzi präsentierte innerhalb nur eines Monats einen Masterplan für den gesamten Ort. Die erste Regel besagte, dass sich jeder Eingriff mit der Struktur des Ortes konfrontieren müsse. Denn die Analyse des Vorhandenen stand bei Snozzi stets am Anfang des Entwurfs – die Auseinandersetzung mit dem Ort, dem Territorium und der Stadt.
Ein verlassenes Kloster wurde umgebaut und avancierte zum Nukleus einer städtebaulichen Reaktivierung. Die Wohnbebauung plante und baute er, um das Dreifache verdichtet, um das Zentrum herum. Im Lauf der Jahre bestätigte der Erfolg seine Überlegungen: Der Trend kehrte sich um, neues Leben zog ein. Als ihm die Gemeinde anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Revitalisierung des Dorfes die Ehrenbürgerschaft verlieh, soll Snozzi, sonst so rational und sachlich, vor Rührung geweint haben.
Snozzi baute keine Solitäre. Ihn interessierte weniger das Einzelobjekt, sondern vor allem dessen Beziehungen zur Umgebung. Seine Architektur blieb zurückhaltend, nüchtern, drängte sich nicht in den Vordergrund. Wohl auch deshalb ist er nie das geworden, was er selbst sicher strikt abgelehnt hätte: ein Star-Architekt. Dafür aber bleibt er ein Vorbild für humanes Bauen und soziales Denken. Das ist sein Vermächtnis.
Ende Dezember 2020 ist der große Tessiner Architekt im Alter von 88 Jahren gestorben.
Wilhelm Christoph Warning