Wer zum ersten Mal eine Einzelausstellung der Österreicherin Maria Lassnig sieht, dürfte überwältigt sein von der urtümlichen Kraft, mit der diese Malerin die Gespenster, die ihre Seele durchstreifen, aber auch die Gräuel und Wonnen, die sie der kollektiven Phantasie entspringen sieht, mittels Farbe in die Fleischlichkeit ihres eigenen Körpers zu bannen oder aus ihrem eigenen Gesicht herauszulesen vermag. Erfährt man dann, daß die Schöpferin dieser im Gedächtnis sich festkrallenden Bilder seit mehr als 60 Jahren als Malerin arbeitet, aber erst vor ungefähr 20 Jahren vom ausstellenden Gewerbe breit entdeckt worden ist, dann fallen alle vom Betrieb und vom Markt aufgestellten Regeln für aktuelle Kunst und Malerei haltlos in sich zusammen.
Als Maria Lassnig in Wien starb, war im PS 1 in New York eine umfassende Retrospektive ihres Werks zu sehen. Diese Ausstellung hat auch in den USA, wie zuvor die großen Sammelausstellungen in Europa, Hymnen eingesammelt, wie sie eigentlich schon vor dreißig Jahren hätten geschrieben werden müssen. Für Maria Lassnig dürfte diese späte Würdigung in New York, der Stadt, in der sie in den Siebzigern mehrfach für längere Zeit gelebt und gearbeitet hat, aber quasi nicht wahrgenommen worden ist, eine kleine Genugtuung gewesen sein.
Dort sind dann wohl auch die Filme gezeigt worden, die Lassnig nach Besuch eines Trickfilmkurses an der School of Visual Arts in New York zusammengeschnitten hat. In einem dieser Filme – er trägt den Titel Selfportrait – hat sie gezeichnete Zerrbilder ihres eigenen Gesichts in einem elektrisierenden Rhythmus so hintereinandergeschnitten und mit eigenen ironischen Texten unterlegt, daß man sich dem Sog des hin- und hermutierenden Gesichts nicht entziehen kann. Mit diesem spielerischen Angriff auf die eigene Physis hat die Malerin eine der zentralen Spielregeln ihres kreativen Daseins genüsslich ironisch rekflektiert.
In einigen gedruckten Texten konnte Maria Lassnig die Methode, mit der sie ihren Körper beobachtet, präzise beschreiben. In Amerika bezeichnete sie ihre Bilder als „Body-Awareness Paintings“, in Europa als „Inside-Ansichten“. Um zu diesen inneren Ansichten zu kommen, setzte Lassnig sich physisch oder psychisch unter Druck, brachte den Körper in Extrempositionen, vertiefte sich in Gedanken und verlor sich in Erinnerungen und Assoziationen. In vielen ihrer Bilder glaubt man den physischen Extremzustand, in den sie sich begeben hat, direkt nachvollziehen zu können. Doch nicht die Art, wie Arme, Leib und Beine zufällig zusammengeschoben sind oder der Kopf verformt ist, fasziniert den Betrachter, sondern die Direktheit, mit der die irritierenden Menschengebilde uns anspringen, uns zu Reaktionen zwingen, uns empathisch berühren.
Schon bei ihrer allerersten Einzelausstellung im Jahr 1948 hat Lassnig das Wort „Körperbewußtseinszeichnungen“ benutzt, um ihre Arbeit von den Werken der männlichen Kollegen zu unterscheiden. Auf uns heute wirkt diese Formulierung wie eine prophetische Ankündigung des riesigen Werks, das folgen sollte.
Mit der Abstraktion, zu der sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten so viele im Gegenständlichen geübte Maler glaubten bekennen zu müssen, hat sich Lassnig auf spielerisch elegante Weise auseinandergesetzt. Sie ging zwar immer noch von anatomischen Formen aus, doch verkürzte sie die Leiblichkeit auf farbige Umrißlinien, die sie zu schwungvoll abstrakten Kompositionen bündelte. In den frühen Sechzigern aber kehrte der eigene Körper auf die Leinwände zurück. Und über ihn kehrten auch die sensibel aufeinander reagierenden Farben zurück, die individuellen Zwischentöne, die gern zwischen Rot und Blau, zwischen Grün und Braun hin- und herchangieren.
Wie man aus der näheren Umgebung der Malerin hört, hat Maria Lassnig in den letzten Monaten vor ihrem Tod nur noch auf Papier arbeiten können, doch bis zu diesem Zeitpunkt hat sie, wenn irgend möglich, täglich gemalt. So ist ein Alterswerk von großem wildem Reichtum entstanden, das mit seinen kraftvollen Verdichtungen, aber auch mit seinen tollkühnen Ausbrüchen aus dem eigenen Kosmos jede Zuordnung zu einer Altersgruppe strikt verbietet und auf dem Gebiet der Malerei Maßstäbe setzt, die für kommende Generationen höchst ungemütlich sind.
Den späten Ruhm hat Maria Lassnig noch genießen können. Im Jahr 1995 ist sie als Korrespondierendes Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen worden. 2013 hat sie auf der Biennale in Venedig den Goldenen Löwen für ihr Gesamtwerk erhalten. Am 6. Mai 2014 ist sie im Alter von 94 Jahren in Wien gestorben.
Gottfried Knapp
Der Nachruf basiert auf einem Text, welcher am 8. Mai 2014 in der Süddeutschen Zeitung erschien.