Mariss Jansons – Dionysiker in apollinischem Gewand
In der Nacht zum 1. Dezember 2019 ist Mariss Jansons im Alter von 76 Jahren in St. Petersburg im Kreis seiner Familie an den Folgen seiner langjährigen Herzerkrankung gestorben. Einen glücklichen Menschen hat er sich wiederholt genannt. Das aber war ihm nicht in die Wiege gelegt, als er am 14. Januar 1943 – als Sproß einer lettischen Musikerfamilie – in Riga geboren wurde.
Angst war vielmehr der dunkle Schatten auf dem Leben des jungen Mariss Jansons. Sein Vater Arvid Jansons war Dirigent, seine Mutter Iraida Sängerin an der Oper in Riga. Sie entstammte einer jüdischen Familie und mußte ihren Sohn in einem Versteck zur Welt bringen, waren doch ihr Vater und Bruder im Rigaer Ghetto umgekommen. Fast die gesamte jüdische Bevölkerung Lettlands – 90 % – wurde während der nationalsozialistischen Besatzung ermordet. Die Rückeroberung Lettlands durch die Sowjetunion am Ende des Zweiten Weltkriegs bescherte der Bevölkerung indessen kaum ein besseres Los.
Nach dem Tode Stalins besserten sich die Verhältnisse, aber der Druck des sowjetischen Systems lastete weiterhin auch auf der Kultur. Musik als größtes »Stimulanz des Lebens« im Sinne Nietzsches war hier nicht gefragt. Mariss Jansons bekam den Kaderdrill der sowjetischen Musikausbildung besonders zu spüren, denn er wurde stets an seinem Vater gemessen. Und er selber forderte von sich oft mehr, als ihm gesundheitlich zuträglich war. Seinen Vaterkomplex hat er nie verleugnet. Pflichtgefühl und Verantwortungsbewußtsein bildeten die moralische Basis seines Künstlertums.
Jansons wuchs quasi im Opernhaus auf. Die Eltern nahmen ihn vom frühesten Alter an dorthin mit. Er hat die Oper buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen. Um so erstaunlicher, daß sie in seiner Dirigentenlaufbahn deutlich in den Schatten seiner Konzerttätigkeit geraten ist. Als Mariss Jansons gerade dreizehn Jahre alt ist, verläßt der Vater Riga und wechselt als zweiter Dirigent neben Jewgenij Mrawinskij ans Pult der Leningrader Philharmonie. Leningrad, das seit 1991 wieder Sankt Petersburg heißen soll, wird neben Riga seine zweite Heimatstadt. Hier hatte er bis zum Tode seinen Hauptwohnsitz. Nur hier fühlte er sich wirklich zu Hause.
Bei einem Meisterkurs in Leningrad 1968 wird Herbert von Karajan auf Jansons aufmerksam. Und so gelingt ihm das Unglaubliche: Er darf 1969 die Sowjetunion verlassen, um in Wien bei dem epochemachenden Dirigierlehrer Hans Swarowsky zu studieren – durch dessen Schule die halbe heutige Dirigentenelite gegangen ist – und Assistent von Herbert von Karajan in Salzburg zu werden. Der Preisträger beim Berliner Karajan-Wettbewerb 1971 wird schließlich – in den Spuren seines Vaters –Assistent von Jewgenij Mrawinskij bei den Leningrader Philharmonikern. Dieser ist für ihn eine zweite Vaterfigur geworden. Jansons' Interpretationen der russischen Musik sind durch Mrawinskijs Dirigate vor allem der Symphonien von Tschaikowsky – die er in seiner asketischen Strenge von aller Sentimentalität und allem Bombast befreite – und Schostakowitsch entscheidend inspiriert worden.
Jansons war kein frühreifes Pultgenie, gelangte erst mit rund vierzig Jahren zu Weltruhm. 1979 wurde er neben seiner Tätigkeit bei den Leningrader Philharmonikern Chefdirigent eines Provinzorchesters: der Osloer Philharmoniker. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich dieses Orchester unter Jansons erzieherischer Leitung zu einem der besten Klangkörper Europas. Fast wäre seine Karriere jedoch 1996 in Oslo jäh beendet worden, als der sich ständig Überfordernde beim Dirigieren der letzten Partiturseiten von La Bohème einen lebensbedrohlichen Herzanfall auf dem Podium erleidet – und noch im Fallen weiterdirigiert. Erschreckende Nähe erneut zu seinem Vater: Dieser war in einem Konzert des Hallé Orchestra in Manchester am 21. November 1984 beim Dirigieren zusammengebrochen und wenige Tage später verstorben.
1992–1997 wurde Jansons Erster Gastdirigent des London Philharmonic Orchestra, 1997–2004 als Nachfolger von Lorin Maazel Music Director des Pittsburgh Symphony Orchestra. Und wiederum löste er Maazel 2003 als Chefdirigent von Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks ab. Die gleiche Position nahm er seit 2004 beim Koninklijk Concertgebouworkest in Amsterdam ein. Daß er sie 2015 zugunsten des BR-Symphonieorchesters aufgab, hat die Musikwelt Münchens mit besonderem Stolz erfüllt. Mit seinem Münchner Orchester hat Jansons alle Musikzentren der Welt erobert, ja 2007 dirigierte er eine Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie im Vatikan vor Benedikt XVI. Die bedeutendsten Auszeichnungen und Preise sind Jansons verliehen worden. Und auch das Adelsprädikat für Dirigenten wurde ihm zuteil: Dreimal haben ihm die Wiener Philharmoniker ihr Neujahrskonzert übertragen. Ein, wenn nicht der Höhepunkt aller Ehrungen war die Verleihung des Ernst-von-Siemens-Musikpreises an ihn im Münchner Prinzregententheater 2013, der ihn in eine Reihe mit Dirigenten wie Claudio Abbado, Leonard Bernstein oder Herbert von Karajan stellte. 2017 ehrte ihn die Londoner Royal Philharmonic Society mit ihrer Goldmedaille, 2018 wurde er Ehrenmitglied sowohl der Berliner als auch der Wiener Philharmoniker und erhielt im selben Jahr auch die Festspielnadel mit Rubinen, die höchste Ehrung der Salzburger Festspiele.
Unter den internationalen Musikstädten, so hat er gestanden, war München seine Lieblingsstadt – wenn sie seinem Herzen auch nicht so nahe stehen konnte wie seine Heimatstädte Riga und Petersburg. Worunter er in München freilich zu leiden hatte, war das Fehlen eines akustisch wirklich angemessenen großen Konzertsaals, der dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks endlich eine Heimat bieten konnte. So war sein Hauptziel für München ein Konzertsaal, der wie der Wiener Musikvereinssaal oder das Amsterdamer Concertgebouw Musik wirklich so erklingen ließe, wie sie von Dirigent und Orchester erzeugt wird. Daß er diesen Konzertsaal nun nicht mehr erleben kann, für den er sich bis zu seinem Tode so leidenschaftlich eingesetzt hat, ist besonders schmerzlich.
Spätestens seit seiner Osloer Zeit galt Jansons nicht nur als einer der bedeutendsten Dirigenten unserer Zeit, sondern als begnadeter Orchestererzieher. Der Dirigent dürfe ein Orchester nicht beherrschen, so die Grundüberzeugung von Jansons, sondern er müsse dem jeweiligen Orchester dienen, seinen Schwerpunkten nahe kommen, Respekt vor seiner Individualität haben. Jedes Orchester habe seinen eigenen ›Ton‹. So gehörte etwa Mahler für Jansons zu Amsterdam wie Strauss zu München.
Die Erfahrung mit der drakonischen Strenge der sowjetischen Musikerziehung hat ihn deren Licht- wie Schattenseiten einsehen lernen und auf einen goldenen Mittelweg geführt: das heißt sachliche Autorität auszuüben, ohne je als Herrscher vor das Orchester zu treten, von den Musikern Unterordnung unter ein Gesamtkonzept zu erwarten und ihnen doch Raum zum freien Atmen und Phrasieren zu gönnen. Jansons insistierte auf intensiver und extensiver Probenarbeit, aber im Moment der Aufführung, so seine Grundüberzeugung, müsse sie vergessen sein, das musikalische Geschehen spontan erzeugt scheinen.
So ist Jansons zum Liebling der Spitzenorchester geworden: Sie liebten und bewunderten seine absolute Metiersicherheit, seinen präzisen Schlag, die Bestimmtheit seiner musikalischen Anweisungen, die doch frei von Arroganz, in liebenswürdigem Ton vorgetragen wurden – dem humanen Ethos des Dirigenten entsprechend, dem die Erfahrung von Totalitarismus und Diktatur alles despotische Gebaren auch in der Kunst zutiefst verdächtig gemacht hat.
Obwohl Jansons von allem Pult-Magiertum nichts wissen wollte, auf das kapellmeisterliche Handwerk pochte, dessen Geheimnis für ihn darin bestand, eben kein Geheimnis zu haben, war ihm doch die Übertragung von Energien auf das Orchester das A und O des Dirigierens. Am Pult erschien er oft als existentiell Getriebener, als »Verrückter«, wie Musiker zärtlich-respektvoll von ihm sagten, wenn es ihn ›überkam‹. Da setzte sich das Freudsche Es gegen das Über-Ich durch, dessen Normengefüge Jansons Leben so sehr diktiert hat. Musik war ihm – er wurde nicht müde, das zu wiederholen – »Sprache unserer Seele«, Ausdruck des »Herzens« – das, was ihm Freunde und Verehrer als russische »Seelenwärme« zugute hielten.
Die Partitur sollte Jansons immer dazu dienen, geistige Zusammenhänge in und hinter den Noten zu kommunizieren. Bezeichnenderweise zeichneten sich Dirigenten wie Swarowsky und Mrawinskij, denen er so viel verdankte, durch hohe Bildung und Geistigkeit aus. Mrawinskij, so berichtete Jansons, habe stundenlang dasitzen können, um über die Musik nachzudenken und in ihre Tiefe einzudringen. Nicht nur Sprache des menschlichen Herzens war ihm die Musik, sondern auch des Herzens der Dinge, sie hatte für ihn eine metaphysische Dimension. Jansons war ein zutiefst religiöser Mensch, der unverstellt seinen Glauben an Gott bekannte.
So breitgefächert sein Repertoire war, ließ sich doch nicht verkennen, daß sein Kernrepertoire der Spätromantik und beginnenden Moderne gehörte. Hier waren vor allem Brahms und Bruckner, Strauss und Mahler seine Favoriten – und natürlich die Russen: Tschaikowsky, Strawinsky, Schostakowitsch, dieser vor allem, sein unbestrittener Lieblingskomponist, den er noch persönlich kennengelernt hat. 2005 hat er die Gesamteinspielung aller Schostakowitsch-Symphonien abgeschlossen, mit verschiedenen Orchestern, vollendet vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Jansons ist der wichtigste Erbe der großen Schostakowitsch-Tradition von Mrawinskij und Kondraschin bis Roshdestwenskij. So sehr er Gefühlsmusiker war, hatte er doch einen ausgeprägten Sinn für die schaurigen Kältezonen, die bizarren Momente bei Schostakowitsch, für die scharfen Akzente, die oft grellen Kontraste, die musikalisch hinter der Fassade der Stalin-Ära das Leben als Groteske erscheinen lassen.
Von seinem Repertoire her war Jansons eher ein Romantiker als ein Klassiker. Und doch wandte er sich in letzter Zeit mehr und mehr dem Werk der Wiener Klassik zu, besonders Joseph Haydn und Beethoven. Aber es ist bezeichnend, daß er Haydns Klassizität – auf andere Weise, aber doch mit verwandter Intensität wie Leonard Bernstein – im Untergrund brodeln läßt: glühende Klassizität. Und umgekehrt lag ihm stets daran, die enthusiastischen oder orgiastischen Momente der romantischen Musiktradition nicht über alle Ufer treten zu lassen, sondern immer in klare Formen zu bannen. Ein Romantiker in klassischer Gestalt, ein Dionysiker in apollinischem Gewand.
Dieter Borchmeyer