Martin Walser liebte das Hinausschwimmen. Als Sprachmensch ist er sehr weit gekommen. Er hatte die Gabe, Wasser in Sprache zu verwandeln. Die Sprache, das war der Weltraum seiner Herkunft. Es war Welt, nicht Provinz. Denn Provinz gibt es nicht. Es gibt nur Welt im Schreiben: den Himmel und das Wasser, die Welt und die Menschen, diese Allmenden unserer Augen. „Hölderlin fragte ihn neulich nach seinem Beruf, unverlegen sagte er: Optiker“, so in Meßmers Gedanken. Ja, das schien es auch bei Martin Walser zu sein, als hätte er etwas mehr gesehen. Walser kam vom Bodensee. Für Martin war das aber nicht irgendwo in der ersten Reihe sitzen, sondern Welt und Weltraum. Was ihn aber nicht zu einem Bodenseeschriftsteller machte.
„Ich bin, was ich bin. Oder ich bin nichts“, sagte John Henry Newman im 19. Jahrhundert, ein Sprachmensch, Liebender, Konvertit und später Kardinal.
Was sind wir, wo sind wir, wer sind wir, und wohin mit uns? Weil wir dies nicht wissen, lesen wir. Und weil wir es herausfinden wollen, schreiben einige von uns. Andere machen etwas anderes.
Kann man sich vorstellen, dass Walser die Restauration, die stattliche Bahnhofswirtschaft seiner Eltern in Wasserburg, übernommen hätte? Die Hungrigen mit Restaurationsbroten versorgt hätte? Er hat es auf seine Weise aber doch getan, mit seinen Lebensmitteln in Buchform.
„Alle Menschen sind am 24. März 1927 in Wasserburg geboren“, las ich. „Lang oder kurz ist die Zeit“, so sagt es sein Kronzeuge Hölderlin. Und gestorben ist Martin Walser am 26. Juli 2023 in Nußdorf am Bodensee, fünfzig Kilometer westlich.
Da fand auch zuvor in der schönen Inselkirche, vom Inselfriedhof umgeben, direkt am Wasser, das Requiem statt, von Pfarrer Gührer zelebriert, am 31. Juli 2023, im Kreis der Familie. Keine Reden. Nur Beten und Singen, das hätte ihm gefallen. Anschließend ist Martin Walser beigesetzt worden, in seinem Grab mit Seeblick, direkt an der Mauer in Himmelsrichtung Säntis.
Wasserburg gehörte über die Jahrhunderte zu dem auf der anderen Seite des einen Sees liegenden Kloster St. Gallen. Wasserburg wurde erst zu Beginn des vorvergangenen Jahrhunderts Teil des neuen Großbayern. Das ist die Vorgeschichte von Martin Walsers Lebens- und Sprachraum, die Internationale von Wasser, Licht und Sprache. Mit dem Säntis über allem als „unserem Fujiyama“, wie er seinem italienischen Übersetzer erklärte, als wir zusammen im Garten am See zusammenstanden und die Alpen als Allmende der Augen besonders deutlich zu sehen waren.
Er hätte niemals „hübsch“ oder „ich bin gerne hier“ und dergleichen gesagt. Das war ihm keine Silhouette, sondern ein Weltraum.
Und doch. Er hatte einen Großvater, der mit dem Satz: „Wenn i bloß ge Amerika wär!“ zurückblieb. Auch sein Enkel Martin, der zwar in aller Welt und oftmals auch in Amerika war, ist hiergeblieben. Kam nach ein paar sehr erfolgreichen Berufsjahren – und Aufbaujahren des SDR als Radio- und Fernsehreporter von Stuttgart aus an den See zurück. Er mag diese Umzugspläne auch erwogen haben. Aus Amerika brachte er auch den Roman Brandung mit. Uwe Johnson, zum Beispiel, wollte ihn und seine Familie nach Berlin-Friedenau locken, „damit die Kinder nicht diese hässliche Sprache sprechen“ – so weiß ich es von den am See Gebliebenen.
Ach, diese Kränkungen. Das war auch ein Motor für Martin Walsers Bücher. Seine Muttersprache war das See-Alemannische. (Das kann man auch nachhören. Eine Sendung von Cornelia Zetzsche für den BR 2 hat das für uns aufgehoben.) Martin Walser liebte diese Sprache, es war nicht Bayrisch, sondern ein schwäbisches Bodensee-Alemannisch. Es machte ihn nicht glücklicher, dass wenigstens auf der deutschen Seite des Bodensees diese Sprache zu sterben scheint; und dass er auch, was das Gesprochene angeht, zu den Letzten gehörte, die diesen Klang zu vergegenwärtigen vermochten.
Vorbei sind die Sommer und die Winter, die erste Erdbeere und der erste Schnee, und das Hinausschwimmen.
Die Angst vor dem Tod hielt sich mit der Angst vor dem Leben die Waage in seiner letzten Zeit – der kleinen Schritte. Er schaffte es noch von einem Raum zum anderen – und zurück.
Aber seine Tage hatten bis zuletzt eine Struktur. Er stand morgens auf und legte sich abends ins Bett. Oftmals schlaflos. Immer umsorgt. Das war auch ein Glück.
Das letzte Mal sah ich ihn, wie er an seinem Fitnessgerät, an einer Art Laufband, bei letzten Übungen war. Wie immer gewissenhaft fleißig. Niemals aufgeben! Es war ein Kampfgeistrest. Er lebte so gerne.
Das Leben ist aber keine Leistungsschau.
Bei meiner letzten Begegnung ein paar Tage vor seinem Tod – sagte er gar nichts mehr, nicht einmal mehr: Oh Arnold! Aber er schien noch einmal zu lächeln. Als wollte er mir „wenn du wüßtest!“ sagen, und „so isches haldt!“
Wenn einer fortgeht … Als begänne nun auch so das letzte Romankapitel im Leben von Martin Walser.
Er war ein aufrechter Mensch, bis zuletzt, nur leicht gebeugt das Geländer entlang. Wie er „Walser“ sagte am Telefon: als müsste er seinen Namen seufzen, als wäre er wie auf Suche nach einem Strohhalm. Dann klang das zuweilen wie eine Frage, die ich auch nicht beantworten konnte. Das war aber noch in Zeiten, als er noch telefonierte …
Auch er hatte selbstverständlich das neueste Smartphone und verfolgte mit seiner wohl angeborenen Neugier die Welt, die gerade ihm von da nicht gleichgültig war. Er telefonierte. Viel. Ich weiß nicht, ob gerne. Glaube es aber schon. Ich sah ihm manches Mal dabei zu.
Damals, nachdem sie in die Bayerische Akademie der Schönen Künste gewählt worden waren, mussten die neuen Mitglieder noch einen Bogen ausfüllen, der auch folgende Frage enthielt: „Charakterisierung des eigenen Schaffens“. Martin Walser schrieb in seiner so großen wie deutlichen Handschrift: „Bedaure … Kann ich nicht. Oder, in EINEM Satz: Mir fällt ein, was mir fehlt.“ Mit dieser Auskunft aus dem Jahr 1986 sind wir schon mitten in Walsers Sprachkosmos.
Es war relativ spät für einen, der so früh in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten war, dass Martin Walser als Ordentliches Mitglied in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen wurde. Walser war schon fast 60, hatte seit über dreißig Jahren die Literatur der Nachkriegszeit mitgeschrieben und mitgeprägt, die Debatten, von der Gruppe 47 an und von der Suhrkamp-Welt her, an der er seinen Anteil hatte, in einer Zeit, da Sprache und Literatur noch ein anderer, eminent gesellschaftlicher Stellenwert zukam.
In die Bayerische Akademie der Schönen Künste wurde er nicht als Person öffentlichen Erscheinens gewählt, sondern aufgrund der Tatsache, dass Martin Walser diese Bücher geschrieben hat, von Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten (1955) an; und kaum eine seiner Kolleginnen und Kollegen hat die (Literatur-)Geschichte und den Literaturbetrieb der Bundesrepublik so lange und so sehr am Leben gehalten wie Martin Walser. (Auch bei der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR hat sich Walser seine Verdienste erworben.) Das ist nun eine Feststellung im Nachhinein, jetzt, da der Lebenslauf Martin Walsers vollendet ist.
Über die Jahre kam er immer wieder in die Bayerische Akademie der Schönen Künste. Zuletzt las er aus Shmekendike Blumen. Ein Denkmal für Sholem Yankev Abramovitsh und sprach mit Präsident Dieter Borchmeyer und Susanne Klingenstein, der er diese späte Begegnung verdankte. Es war wohl der letzte Auftritt Martin Walsers in der Akademie.
Walser erhielt, vom Preis der Gruppe 47 an, zahlreiche Auszeichnungen, Preise, in- und ausländische Orden und Mitgliedschaften in Akademien, Pour le Mérite, Ehrendoktorate, den Georg-Büchner-Preis, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Einerseits war da die Öffentlichkeit in Walsers Leben. Er konnte auch in ihr schwimmen. Soll ich jetzt: wie ein Fisch sagen?
Aber das Schreiben war etwas ganz anderes, wie das Lesen auch.
So schreiben geht ja nicht anders, und so lesen auch nicht: Beides ist eine sehr einsame Tätigkeit. Schreiben und Lesen sind ja etwas Stilles, Einsames, etwas „ganz für sich“. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dagegen das Aufführen eines grandiosen Leseabends vor großem Publikum. Und dann das Verschmelzen, Aufgehen und Verschwinden in seinem Text.
Begonnen hat Walser als Reporter … Am Aufbau des Süddeutschen Rundfunks (SDR) als öffentlicher Radio- und Fernsehanstalt, jetzt fusioniert mit dem Südwestfunk (SWF) zum SWR, war er maßgeblich beteiligt.
Oh ja, Martin Walser war zweifellos auch im öffentlichen Raum eine hochbegabte Erscheinung. Schon 1950 war er mit einer Pilgergruppe zum Anno Santo nach Rom gefahren und hat von dort live berichtet. Walser war über Jahrzehnte hinweg in der öffentlichen Landschaft präsent und aktiv, so lange und so wirksam. Aber alles Treiben der Vita activa hat doch einen unschmelzbaren Kern: „Es sagen können.“ Was einer hat oder was einem fehlt.
Die Verletzungen hat man ihm so nicht angesehen. Aber lesen konnten wir sie auch in seinem Blick.
Ist der Schriftsteller nicht derjenige, der jene Geschichte schreiben muss, die als Glück gedacht war?
Und gerade hier ist das Wort „atemraubend“ das naheliegendste. Das war ein Lieblingswort Walsers. Einmal sagte ich „atemberaubend“. Welche Enttäuschung: Jetzt sagst auch du so. Es heißt aber atemraubend! Darauf bestand Martin Walser.
„Die Welt will alles sein, aber nicht sinnlos“, so heißt es in Martin Walsers Spätwerk Statt etwas oder Der letzte Rank. Das muttersprachliche Wort ist schön, und meint noch viel mehr als das hochdeutsche Wort KURVE.
Rank: Und ich denke dabei weniger an eine letzte Kurve im Leistungssport, sondern an eine Bewegung nach oben hin, an etwas Blühendes.
In seinem Springenden Brunnen von 1998 lässt der Schriftsteller einen Vater sagen: „Johann, ich staune!“ Und so geht es mir auch. Die Bücher, die Martin Walser in den vergangenen Jahren seines hohen Alters schrieb, sind staunenswert für jenen, der bereit ist, Walsers poetischem Werk, das auch in gewisser Weise eine Abkehr vom Romanhaften bedeutet, zu folgen. Das deutete sich schon länger an.
Es war in Konstanz, vor ein paar Jahren: In scharfer Form wandte sich Walser nun gegen die Belletristik: „Das ist da, wo man Tee trinkt, und dann kommt die Polizei“, und nannte in diesem Zusammenhang seine Ehen in Philippsburg zur Verteidigung seiner Gegenwart auf der Höhe seines 90. Geburtstags (Jahrhunderts).
Er schaffte es, als einziger Mensch auf der Welt zu erscheinen inmitten von uns Menschen. Die ihn sehen und hören wollten. Seine Auftritte galten als Ereignis. Sein Erscheinen fiel in eine Zeit, als der epochale Bruch im Weltverständnis von analog zu digital noch nicht vollzogen war.
Auch Nußdorf war über die Jahre ein Pilgerziel für Kamerateams, Fotografen und für Menschen geworden, die über ihn schrieben und schreiben wollten. Kaum ein Gesicht war so in die Öffentlichkeit hineinfotografiert.
Wenn er hereinkam … Wenn er durch die Wogen des Publikums hereinkam, gleichsam auf einer Ola, deutsch: Welle, hereingetragen …
Doch nicht nur ich hatte jedes Mal die Empfindung, hier komme der einsamste, schwermütigste und schmerzbeladenste Mensch auf der Welt. So war es bei seinen Lesungen. Als fragte er vor allem sich: Was mache ich hier?
Aber immer auch: Jetzt waren wir vollzählig. Das war alles nicht gespielt, und doch. So ein Profi! Es war alles immer akribisch-sorgsam, ich möchte sagen: gewissenhaft vorbereitet, bis hin zur richtigen Ausleuchtung und den Mikroproben. Und dann auch der ins Schalkhafte spielende Blick, der Macher, der es genau wusste. Ein Könner. Er wusste bis zuletzt, wie es funktioniert.
War mehr mit der Welt verbunden als die meisten von uns.
Schon als Reporter beim SDR war er aber auch damals schon Hebamme oder Ermöglicher – als ein Beispiel Arno Schmidt: Ihn lud Walser in den Sender nach Stuttgart ein, und dann auch zu sich nach Hause. Im Wäschekorb lag die kleine Franziska, und auf seine Frau Alice deutend kommentierte Schmidt diese Entdeckung dann mit dem Satz: „Meine Frau hat Katzen.“ Immer wieder wurde Martin Walser auch als Hebamme gerühmt.
Ohne dass er von Berufs wegen dazu verpflichtet gewesen wäre, als Verleger oder Lektor, las Walser die Texte, die ihm zugeschickt oder übergeben worden waren. Er las. Und oftmals, ohne dass die Betroffenen darum gebeten hätten, setzte er sich bei Verlegern und Verlagen für Manuskripte ein, deren Autoren er oftmals gar nicht persönlich kannte. Diese Hilfsbereitschaft Walsers ist auch einzigartig und fruchtbar. So wirkt Walsers Schreiben auf alle Arten. Er war ansprechbar. Gerade als Schutzmantelmadonna von vielen, die zwar schon ein Buch geschrieben hatten, aber der Verlag dafür fehlte noch. Ja, er hat auch andere ins Licht gestellt, auch darin war er Meister. Dabei ist es doch die Regel, dass ein Schriftsteller lebt und schreibt, als wäre er allein auf der Welt.
Die schönste Eigenschaft von Martin Walser als Leser ist wohl sein Rühmungsvermögen. Das macht ihm so leicht keiner nach. Und über Gelesenes schreibend zeigte er ihnen und uns dann den Meister. Wie vielen Kollegen er weitergeholfen hat?& Es sind mehr, als ich wissen kann.
Und auch ich denke nun daran, wie schön es war und bleibt, im Leben einem solchen Martin begegnet zu sein, der als Virtuose des Rühmens seinen Schreib-Mantel über uns gehalten hat, ja sogar geteilt, Martins Mantel.
Erst recht von seiner Novelle Mein Jenseits (2010) an hielt das Wunder Einzug in Martins Werk. Den Auftakt macht Professor Feinlein, der Chef einer psychiatrischen Anstalt namens Scherblingen. Er will das Heilige in Form einer Heiligblutreliquie vor dem Zugriff einer funktional-utilitaristischen Welt in Gestalt seiner Mitarbeiter retten und wird deswegen von ihnen für verrückt erklärt. Zitat aus der Rheinischen Post: „Vor zwanzig Jahren hätte ich so ein Buch überhaupt nicht schreiben wollen und auch nicht schreiben können.“
„Gott fehlt.“ Das heißt ja nicht, dass es ihn nicht gibt oder gab in seinem Leben, sondern vielmehr: Er war da als der Vermissteste. Gerade in den letzten Jahrzehnten seines Lebens und Schreibens. Walser hat, so darf ich es sagen, ganze Bücher zu diesem Thema geschrieben. (Aber) Sein Zugang war recht eigenwillig, quasi wie der eines Mystikers. Heinrich Seuse, Swedenborg und Jakob Böhme werden immer wieder aufgerufen. So schrieb er sich wie sie in Gott hinein.
Auch bei Karl Barth fand er, der selbst kein Theologe sein wollte, dann Sätze, die er suchte, und schrieb sie weiter. Walser übersetzte die Theologen kreativ in sein eigenes Schreiben und machte sie fruchtbar für seinen Lebensroman.
„Glauben heißt, die Welt so schön zu machen, wie sie nicht ist.“ So las ich es in Muttersohn.
Die letzte öffentliche Unterschrift Martin Walsers steht unter dem Appell an den
Bundeskanzler, nicht noch mehr sogenannte schwere Waffen zu liefern. Er war ein Erstunterzeichner, Datum: 29.4.2022.
Die Geschichte ist anders weitergegangen. Das macht die Unterschrift nicht vergebens. Hineingesungen ist sein Werk in die Welt, auch in die Welt am Bodensee, die längst die Wohlfühlregion Nr. 1 ist, wo auch Waffen produziert werden und in alle Welt verschickt. Vor ihnen flüchtet mancher Mensch. Und mit Glück schafft er es, ohne zu ertrinken, über das Mare Nostrum und landet da, von wo sie kamen, in einer der Notunterkünfte am Bodensee. Wo Waffengroßbetriebe entscheidend zum Wohlstand der Wohlfühlregion Bodensee beitragen. „Waffen“ war ein Wort, das Walser auch nicht glücklicher machte. Dafür wurde er noch einmal als Störenfried wahrgenommen.
In diesem Zusammenhang muss ich an Sebastian Castellio, blutig von Calvin verfolgter Meilenstein und Mitbegründer der Menschenrechte, denken: „Einen Menschen töten heißt nicht, eine Doktrin verteidigen, sondern einen Menschen töten.“ Castellio und Walser wussten doch aus eigener Erfahrung, wie es mit dem Krieg ist. Und wie man in etwas, und wäre es die Geschichte, verstrickt werden kann und verstrickt wird. Der Krieg löste keinen Taumel und keine Euphorie aus in ihm. Im Schwarzweißformat der sechziger Jahre wurde er einmal nach seinem linken Engagement befragt: „Die Menschen? Eine Idee?“ Und er korrigierte: „Keine Idee, sondern ein Herzensanliegen.“
Und von da engagierte er sich, ein Leben lang. Hauptstationen dieser öffentlichen Teilnahme waren die Wiederaufrüstungsdebatte, die Frankfurter Auschwitzprozesse und der Vietnamkrieg. Immer standen Menschen im Herzzentrum dieses Lebens und Schreibens.
DER SCHMERZ ist ein sehr MÄNNLICHES WORT bei Martin Walser.
Keine Idee, sondern ein Motor seines Schreibens. Keine diffuse Regung, sondern unmittelbar. Aber nicht so wie beim Zahnarzt. Sondern als Grund-Riss. Der war eine Quelle, aus der es blutete.
Das Schreiben war und blieb für den Schriftsteller, den ich meine (das Wort kommt von „Meinen“, d.h.: „Lieben“), auch ein lebenslänglicher Versuch, das nicht zu Verschmerzende zu verschmerzen. Auch er, Martin Walser, hatte – wie andere Schreibmenschen – einen Leidensvorsprung, den er mit seinem Rückspiegelschmerz, den er schreibend zu einer zweiten Gegenwart machte, einfing, aufleben ließ und im Lesen aufleben lässt.
Es musste sein.
Martin war ein Sänger, der aus dem Leben etwas machte, das man singen kann.
Martin Walser hat Schmerz in Schönheit verwandelt. Das Wasser in Sprache.
Das Unglück in Sprachglück.
Und doch! Ich vernahm immer auch eine Art Ruhelosigkeit – ein Unterwegs im Vorletzten – trotz der Stabilitas loci von Nußdorf. Jeder Schriftsteller hat eine Wunde, aus der es weiterblutet. Es fehlt das Gerinnungselement des Vergessens. Eine Wunde als Quelle?
Als das Ganze seines Lebens und Schreibens möchte ich Es schlug mein Herz bezeichnen. Lieben ist ein Tu-Wort: „Herz, worauf wartest du? Lieben kannst du sofort!“, wie es bei Juan de la Cruz heißt.
In der Morgenfrühe seines Lebens und Schreibens war er von ungestümer, ja übermütiger Kraft. Es war vielleicht wie beim jungen Goethe, also Sesenheim: „Es schlug mein Herz“. Und das hielt bis zuletzt. Also auch Sturm und Drang, Hörst-du-mein-Herz-Schlagen.
Ja, die Winter und die Sommer sind nun vorbei. Wurde nicht gerade erst im Walserhof von Wasserburg der siebzigste Geburtstag gefeiert? Und bald schon der neunzigste, von seinem Freund Heribert Tenschert ausgerichtet, und dann noch einmal der vorletzte. Es war gegen Ende der Coronazeit, die uns noch einsamer machte. Aber Martin Walser hat während dieser Zeit jeden Tag weitergeschrieben. Das war bis zuletzt so. Davor hatte er das Sprechen fast schon aufgegeben.
Sein ganzes großes Werk ist eine Übersetzung von Welt in Sprache, seiner Welt in seine Sprache, ist Weltliteratur. „Wenn du nicht gewesen wärst, Sprache, hätte es mich nicht gegeben.“ Aber es gab sie und ihn, was für eine glückliche Verbindung.
Da, wo er war, war er mehr als die anderen, möchte ich fast sagen, wenn es um den Weltraum der Sprache geht. Nun sagen wir dem Letzten von den Großen einer ganzen Epoche ADIEU. Einerseits war er fast der öffentlichste aller Schriftsteller. Doch im Epizentrum seines Lebens war er vor allem ein Dichter. Die Sprache war seine erste Liebe. Und Schreiben war für ihn die einzige Möglichkeit, sich gegen die Vergänglichkeit zu wehren. Martin Walser bestätigt durch all seine Lebenskurven in seinem Schreiben, dass es nicht umsonst war.
Am 21. Januar seines letzten Lebensjahres – es war an einem Samstag – kamen Theo Waigel und seine Frau Irene mit Julius Berger und dessen Frau Hyun Jung, zwei wunderbare Cellisten, noch einmal nach Nußdorf. Und sie spielten. Walser und Waigel verbanden nicht nur die markanten Augenbrauen und die Herkunft aus dem bayerischen Regierungsbezirk Schwaben. Es dürfte das letzte Mal gewesen sein, dass er so etwas hörte, Bach, Solosuiten. Und „Die Welt war Klang“.
„Literatur ist das Licht, das uns alle erleuchte.“ Das schrieb Martin Walser zur Eröffnung des Literaturhauses Heilbronn an Anton Knittel, der schon im August 1994 jene unvergessliche Lesung auf der Burg Wildenstein, hoch über den von Hölderlin in seiner Hymne Der Isther besungenen Felsen organisiert hatte. Martin Walser selbst aber war eine Art Leuchtturm der Literatur, ein Dichter, streitbarer Zeitgenosse, Freund, Helfer und Gefährte über die Jahrzehnte hinweg. Zwar war er eine prägende Gestalt der Öffentlichkeit von den Nachkriegsanfängen bis heute. Martin Walser aber war und bleibt vor allem jener Dichter, von dem auch wir Abschied nehmen.
Auch die Bayerische Akademie der Schönen Künste verliert mit und in Martin Walser eines ihrer prominentesten Mitglieder. Mutig war er auch, zuzeiten streitbar und verstörend. Und schüchtern, ja, und mit dem Übermut des Schüchternen (Julien Green) ausstaffiert.
Wir werden Martin Walser, diesen Martin, vermissen, wie er lebte und da war mit seiner Sprache, unter uns, als wäre es für immer. Und wie er auch unser Leben und Lesen – darf ich es so sagen? – schöner gemacht hat mit seinem Leben und Schreiben.
Wann, wenn nicht jetzt, noch einmal dankbar sich seiner erinnern? Wir, die wir ihm auch manches Mal in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste begegnet sind und ihn erlebt haben, werden auch diesen seinen Blick unter Nietzsches Schnauzbart vergleichbaren Augenbrauen, wie er dich anschaute, nicht vergessen, und vermissen.
Arnold Stadler