Am 23. März 2024 ist einer der Helden meiner Jugend gestorben: Maurizio Pollini. Als junger Medizinstudent zu Beginn der 70er Jahre versuchte ich jedes Konzert von ihm im Münchener Herkulessaal zu besuchen. Langes Anstehen vor der Kasse, Hoffnung auf einen Stehplatz oben auf der hinteren Empore oder später dann eventuell Bühnenplätze. Ein Kommilitone von mir rühmte sich damals, durchs ungesicherte Klofenster den Herkulessaal erstürmt zu haben, um Pollini zu hören. In den späteren 70er Jahren dann in West-Berlin die gleiche Begeisterung, wann immer er auftrat.
Was hatte mich damals fasziniert? Ich dachte schlicht: das ist die Wahrheit. So wie er spielt, so wie er auftritt, so wie er lebt. Das ist modernes Künstlertum, das die Bedingungen des Metiers reflektiert, das Event und Entertainment verabscheut und sich den Forderungen der Gegenwart stellt. Seine Programme (deren schmales „klassisches“ Repertoire mich damals nicht schreckte, Hauptsache, er bereicherte einen Klavierabend durch Werke von Boulez, Stockhausen oder Webern), generell sein Eintreten für die Neue Musik, sein politisches Engagement waren für mich beispielgebend. Für mich in meinen späten 20er Jahren war er ein Leuchtturm. Noch immer habe ich die damals erstandenen Platten, die berühmte, im Herkulessaal der Münchener Residenz 1972 realisierte Deutsche-Grammophon-Aufnahme der Chopin-Etüden op. 10 und op. 25, seine späten Beethoven-Sonaten (Aufnahme 1975) und natürlich dann: sofferte onde serene, das berühmte Stück, dass Nono seinem Freund Pollini geschrieben hatte. Das zweite, ebenso bedeutsame Zeugnis der Zusammenarbeit zwischen Nono und Pollini ist die Komposition: Como una ola de fuerza y luz für Orchester, Singstimme, Klavier und Tonband, 1972 im Teatro alla Scala unter Claudio Abbado uraufgeführt. Die kulturpolitischen Aktivitäten „Musica/Realtà“, die das Trio Abbado, Pollini und Nono in Italien in den späten 60er und den 70er Jahren entfalteten (Arbeiterkonzerte, Auftritte in Fabriken, das Niederreißen der Schwellen vor dem Zugang zur Kunstmusik), all das hatte meine volle Bewunderung und natürlich: sein Spiel (das nicht für jede Musik gleich angemessen war), aber für die, die mich damals besonders interessiert (die Moderne und Beethoven). Wolfgang Stähr schrieb in einem Nachruf in der NZZ auf Pollini: „Unter seinen Händen klärte sich jede Musik zu einer Musik des zwanzigsten Jahrhunderts“. Das war es, was manche kritisierten und was mich begeisterte.
Pollini schaffte es, sich nach dem sehr frühen Ruhm 1960 mit dem gewonnenen Chopin-Wettbewerb frei zu halten von den Vermarktungsbedürfnissen der Musikindustrie und zog sich zunächst zu einem Studium bei Arturo Benedetti Michelangeli zurück, bevor er mit wegweisenden Interpretationen zu einem der bekanntesten Pianisten seiner Zeit wurde. Die Anerkennung war grenzenlos. Mit dem Progetto Pollini ab 1994 bei den Salzburger Festspielen kreierte er eine besondere Form von dramaturgisch durchgestalteten Programmen, in denen die zeitgenössische Musik ebenbürtig neben der Tradition stand. 1996 wurde er mit dem Ernst von Siemens Musikpreis geehrt. Im Jahre 2000 wurde ihm das Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik verliehen. 2010 erhielt er den Praemium Imperiale. Der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gehörte der am 5. Januar 1942 in Mailand geborene Architektensohn Pollini seit 1982 als korrespondierendes Mitglied an.
Nikolaus Brass