Michael Gielen, geboren 1927, starb am 8. März dieses Jahres. Ich möchte den in der Mehrzahl erfreulich würdigenden und ausführlichen Nachrufen nicht tautologisch einen weiteren hinzufügen. Meine Beziehung zu ihm reicht in das Jahr 1979 zurück, als ich in die Oper Frankfurt eintrat. Die sogenannte Gielen-Ära dort von 1977-1987 ist zu Recht legendär. Die Aussicht, die Oper Frankfurt zu übernehmen fand er »reizvoll«. Das Michael-Gielen-Archiv der Akademie der Künste, Berlin, bewahrt ein handschriftliches Blatt vom März 1975, in dem stichwortartig die Pläne für Frankfurt skizziert werden. Ich zitiere:
»März 1975
Reizvoll: Kulturpolitik durch Spielplan und Regisseurwahl.
Erste Entscheidung: Inhaltstheater, nicht Startheater
Zuerst die Stücke – dann die Produzenten
(Nicht: zuerst der Sänger).
Spielplan Grundzüge: Schwerpunkte (2. Entscheidung)
A) Mozart Wagner Italiener (Verdi)
B) Janacek, 20tes, Barock,
Berlioz übergreifend mit Konzert
Konzert nach demselben Prinzip wie Oper: Schwerpunkte
»erkennbare Sinngebung«. Dagegen als Reservat der Sängeroper das
Sonderabo
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Operndir. + GMD – daher Direktion teilen. 3 Direktoren
Grundsätzlich auch die Entsch. für Erweiterung der Dramaturgie um die Inhalte des »Inh. Theaters« auch verbal zu transportieren.
Jahresprogramm muss Kulturausschuss des Magistrats vorgetragen werden.
Im Hause keine Mitbest. aber »Künstlerischer Beirat«, der konsultiert werden muss über künstl. Planung + pers. Veränderung.
Er soll mehr sein als Interessenvertretung.«
»Reizvoll«: ein echtes Michael-understatement. Tatsächlich könnte man die Liste durchgehen und die »erkennbare Sinngebung« in nahezu allen Punkten in der Arbeit der Oper Frankfurt über die Jahre hinweg nachweisen. Frankfurt war das aufregende Experiment der Verwandlung von kritischem Bewußtsein in Kunst; der Versuch, solches Bewußtsein in Tönen, einen Orchestergraben, auf einer Bühne, in den Köpfen von Menschen zu verankern. Das Primat der Stücke meint das ihrer »Inhalte« und ihres Notentextes: genau lesen, was da steht: eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die in Frankfurt in den gelungensten Fällen zu außergewöhnlichen, auch beunruhigenden, im besten Fall eine neue Notwendigkeit für das Zusammenkommen von Bühne und Klang begründenden Aufführungen geführt hat.
Ich habe miterlebt, wie das Fortbestehen dieses Experiments gerade in Momenten der größten künstlerischen Leistungsfähigkeit – »Aida« und »Soldaten« in einer Spielzeit! z. B. – durch Irritation in der Öffentlichkeit schwer gefährdet war (»was gedenken Sie gegen den Zuschauerschwund zu unternehmen?«) und nur durch Michaels Halsstarrigkeit oder auch Stiernackigkeit, dem Gegenstück zu seiner berühmt oder auch berüchtigten Unerbittlichkeit auf den Proben, gerettet wurde.
Gegen den Nimbus des intellektuellen Musikers, den er nie ganz los wurde, ist nicht nur zu sagen, daß ein wenig Nachdenken und Aufklärung nicht schadet; man muß auch auf sein außergewöhnliches Gespür für Dramaturgie hinweisen, für dramatische Zusammenhänge, dramaturgische Knotenpunkte. Da ist Analyse sicherlich auch hilfreich, vor allem aber war da ein Feuer und Ungestüm in ihm, das sich immer wieder Bahn brach.
Möglicherweise wirkte das kritische Denken sich in seinen Kompositionen bisweilen auch hemmend aus. Aber sie waren ihm wichtig; bei einem Arbeitsaufenthalt in Mondsee, kurz nach Fertigstellung des Quartetts »Un vieux souvenir« für die La Salles, habe ich ihn so gelöst erlebt, wie bis dahin nie; zwischen Tischtennis-Spiel und gutem Essen beugten wir uns dann über die »Trojaner«.
Was Frankfurt versäumte – es gibt nicht eine professionelle Bild- und Tonaufzeichnung der Aufführungen – hat Michael beim SWR-Sinfonieorchester, dessen Chefdirigent er von 1986-1999 war, wenigstens teilweise versucht einzuholen: das Dokumentieren seiner Art des Arbeitens und Hörens. Das oberste Gebot von Deutlichkeit und Transparenz führte bei ihm wie kaum jemandem zu einem skulptural geformten, gleichsam dreidimensionalen Orchesterklang. Die Überführung von Musik in Architektur. Schon einige Tondokumente aus seiner Zeit in Cincinatti belegen das; über das große Gielen-SWR-Schallarchiv kann man nur dankbar sein: als klingende Manifestation der Überzeugung, daß es Sache der Interpreten, der Dirigenten ist, jene Probleme auszutragen, welche die der Werke selber sind.
Von dieser Arbeit profitierte nicht nur die 2. Wiener Schule, sondern ebenso Beethoven, wie Mahler, wie B. A. Zimmermann. Die UA von dessen Oper »Die Soldaten« 1965 in Köln war eine Großtat von musikhistorischer Bedeutung. Und dann war da noch, kurz vor seinem Rückzug vom Pult, Mahlers Sechste, 2013, in Salzburg; mit 86 Jahren, die Augen bereiteten größte Probleme. Wieder die gleiche, faszinierende, räumliche Disposition wie eh und je, im Detail wie in der großen Form; allein: über 12 Minuten langsamer als je zuvor. Wir telefonierten darüber wie über vieles andere. Es war kein Tribut ans Alter, sondern seine klare künstlerische Entscheidung! Neugier und Suche bis zuletzt.
Peter Hirsch