Am 18. Januar 2016 starb mit einundneunzig Jahren in Choisel der französische Schriftsteller Michel Tournier, der seit 1990 Mitglied unserer Akademie war. Warum ein Franzose in der Bayerischen Akademie? Weil er einer der ganz wenigen französischen Schriftsteller der Nachkriegszeit war, der sich für die deutsche Geistesgeschichte interessierte und auch fließend deutsch sprach. Das war ein Erbe vor allem von Seiten der Mutter, das trotz der zwei Weltkriege und trotz einer schweren Verwundung des Vaters im ersten Weltkrieg nicht zerstört worden war und nebenbei auch nicht dazu geführt hat, daß es im zweiten Krieg zu irgendeiner Form der Kollaboration gekommen ist.
Michel Tournier, Sohn von Germanisten, studierte ab 1946 in Deutschland Philosophie. Wo? Natürlich in Tübingen! Er hat mir manchmal von diesen ärmlichen, aber glücklichen Zeiten erzählt und konnte selbst als älterer Herr noch seinen Hölderlin auswendig deklamieren. Erst relativ spät, 1967, veröffentliche er seinen ersten Roman, Freitag oder Im Schoss des Pazifik, dem 1970 sein größter literarischer Erfolg folgte: Der Erlkönig, für den er den Prix Goncourt erhielt – bis zum Jahr 2010 war er dann selbst in der Jury des Goncourt und damit nicht unerheblich daran beteiligt, welche Strömung sich in der französischen Literatur durchsetzen sollte. Volker Schlöndorff hat diesen zum Teil in Ostpreußen spielenden Roman verfilmt, eine düstere Ballade über die Anziehungs- und Verführungskraft der Nazi-Ideologie, der auch in der deutschen Romanistik nach allen Regeln des Fachs interpretiert und auseinandergenommen wurde.
Der im klassischen Sinne geistvolle, sehr witzige Michel Tournier, der buchstäblich alles gelesen hatte – »was soll man auch sonst in der französischen Provinz tun? « – und es gerne teilte, schrieb neben weiteren Romanen, die übrigens alle von einem Jugendfreund aus Tübinger Tagen übersetzt wurden, einige Kinderbücher, die in Frankreich zu Klassikern wurden, aber auch unzählige Essays zur Literatur und zur Politik, nicht zuletzt über Deutschland, das er seit 1989 besonders kritisch unter die Lupe nahm.
Meine Lieblingsstücke aus seinem späten Werk waren die Mini-Essays und längeren Tagebucheintragungen, von denen einige Sequenzen in der Zeitschrift Sinn und Form der Berliner Akademie abgedruckt wurden. Hier war er sozusagen ganz bei sich und nicht der Star der Pariser Literaturszene.
Schade, daß unsere Literaturabteilung diesen hellen Geist nicht öfter zu Lesungen und Diskussionen eingeladen hat. Wir werden ihn nicht vergessen.
Michael Krüger