Per Olov Enquists Arbeit habe ich über Jahre verfolgt, und auch einige seiner Romane, die meine Bewunderung gefunden hatten, für den Rundfunk und Zeitschriften besprochen. Inmitten der erregten Diskussion der siebziger Jahre, ob man in Anbetracht der komplizierten Wirklichkeit überhaupt noch Romane schreiben könne, beantwortete dieser schwedische Autor die Frage mit komplexen realistischen Romanen. Seine Methode verband Authentisches mit Fiktionalem derart, dass das Eindeutige der Fakten mehrdeutig und das gesichert Geglaubte fragwürdig wurde. Zeitgeschichte erzählte er am Schicksal Einzelner, die sich in gesellschaftliche Konflikte verstrickt hatten: so in Die Ausgelieferten (1969), Der Sekundant (1971), der Auszug der Musikanten (1978).
Anfang der achtziger Jahre – ich kann das genaue Datum nicht ermitteln - hörte ich, Per Olov Enquist käme nach München. Ich wollte ihn gern kennenlernen, und der Hanser Verlag war so freundlich und vermittelte ein Treffen.
Verabredet hatten wir uns zu Mittag in dem traditionsreichen Bogenhausener Restaurant Herzogparkquelle, mit dem Spitznamen: Wirtshaus zum schmutzigen Löffel, das 2020 verkauft, entkernt und als sprechendes Beispiel für die Entwicklung Münchens im neuen Jahrhundert in eine Praxis für Ästhetische und Plastische Chirurgie umgewandelt wurde.
Enquist kam, sehr groß, schlank, sehnig, ruhige Bewegungen, ein nachdenklich unaufgeregtes Reden. Man sah ihm an, dass er einmal Leistungssportler gewesen war. Er hatte an schwedischen und internationalen Wettbewerben im Hochsprung teilgenommen und die Sprunghöhe von 1,97 Meter erreicht. Ein Schriftsteller, der den Sport zum Thema machte, nicht nur in Reportagen und Essays, sondern auch in dem Roman Der Sekundant. Die authentische Geschichte des schwedischen Meisters im Hammerwerfen Mattias Engnestam wird von einem fiktiven Sohn erzählt. Engnestam hatte 1947 den Hammer manipuliert und um 400 Gramm erleichtert. Mit dem derart verschlankten Gerät warf er einen Rekord. Ein dilettantisches Unterfangen, das schnell entdeckt wurde. Engnestam wurde auf Lebenszeit disqualifiziert. Ein früher und recht kurioser Fall von Doping am Gerät, den Enquist damals mit Reflexionen über die gesellschaftliche Bedeutung des Sports begleitete: In der Leistungssteigerung und Selbstoptimierung für den Wettbewerb spiegelt sich für den Autor ein Prinzip kapitalistischer Wirtschaft. Der Hammerwerfer Engnestam versucht, sich diesem Druck zu entziehen und dennoch mitzuspielen; er wird entdeckt und von der auf Fairness und Ehrlichkeit getrimmten schwedischen Gesellschaft geächtet.
Während wir über Wurfparabeln, über das Straddlen und den Fosbury-Flop sprachen, kam die Kellnerin. Enquist bestellte sich nicht, wie ich vermutet hatte, einen Salat, sondern ein Eisbein mit Sauerkraut und Erbsenpüree. Bisher hatte ich in der bayrischen Herzogparkquelle nie ein Eisbein auf der Speisekarte gesehen. Die Bestellung wurde aber ganz selbstverständlich angenommen. Vielleicht hatte der Hanser Verlag diesen für die Münchner Gastronomie ausgefallenen Autorenwunsch zuvor der Küche mitgeteilt. Ein Helles oder ein Pils? Nein, Mineralwasser. Mein Erstaunen bemerkend, sagte er, er trinke momentan keinen Alkohol. Später erfuhr ich, dass er damals einen seiner zahlreichen Versuche unternahm, sich von seiner Alkoholsucht zu befreien, was ihm endgültig erst 1990 gelang.
Wir sprachen über seine langjährigen Recherchen zu dem Roman Die Ausgelieferten, jene Geschichte deutscher sowie litauischer, lettischer und estnischer Soldaten, die an der Seite Deutschlands an der Ostfront gekämpft hatten und kurz vor und nach der Kapitulation im Mai 1945 über die Ostsee ins neutrale Schweden geflohen waren. Nach einer hitzigen öffentlichen Diskussion waren sie Monate später an die Sowjetunion ausgeliefert worden. Diese auf Druck Russlands erfolgte Auslieferung kam einem Bruch der im schwedischen Selbstverständnis so wichtigen Neutralität gleich. Allerdings war diese Neutralität schon zuvor recht opportun ausgelegt worden. Nur wenige Monate hätte Deutschland den Krieg führen können, wäre nicht das Eisenerz aus Schweden geliefert worden. Zugleich wurde den deutschen Truppen der Transit von Norwegen durch Schweden nach Finnland erlaubt. Die Einzelschicksale der aus staatlicher Opportunität ausgelieferten Gefangenen hat Enquist mit akribischer Recherche nachverfolgt.
Die Kellnerin stellte ihm ein solides Eisbein, eine bayrische Surhaxe also, mit Sauerkraut auf den Tisch. Enquist erbat mehr Senf und begann an der rosa Schwarte herumzusäbeln.
Während er schweigsam seiner Arbeit nachging, sprach ich von Lars Gustafssons Erzählung Die Tennisspieler, lobte deren verwinkelte Konstruktion und die Tatsache, dass er und Gustafsson den Sport zu literarischen Würden verholfen hatten, Vergleichbares sei in der neueren deutschen Literatur nicht zu finden. Er legte Messer und Gabel beiseite, wurde plötzlich gesprächig, sagte, sie beide, Gustafsson und er, hätten in Uppsala als Studenten zusammengewohnt und auch Tennis gespielt. Das, was Gustafsson geschrieben habe und was er über das Tennis erzähle, sei jedoch etwas hochgestapelt. Gustafssons Technik bestehe darin zu schneiden, zu schnippeln, eine Art Tischtennis mit darmbespannten Schlägern. Deutlich wurde, wenn auch unausgesprochen, er, Enquist, war der bessere Tennisspieler.
In seiner überraschend heftigen Rede verbarg sich etwas, was ich erst später deuten konnte, die Freundschaft der beiden war, wie man mir erzählte, zur Gegnerschaft geworden. Gustafsson hatte sich von der schwedischen Sozialdemokratie verabschiedet und den Konservativen zugewandt, während Enquist an seiner linken Position festhielt. Ich war, wurde mir bewusst, was sein Privates anbelangte, ein wenig naiv und ahnungslos zu diesem Treffen gegangen. Doch seine Erregung verlor sich allmählich, und er widmete sich wieder dem Eisbein.
Wir haben noch über seinen Roman Der Auszug der Musikanten gesprochen, der in seiner 1000 Kilometer nördlich von Stockholm gelegenen Heimatprovinz Västerbotten spielt. Dorthin kommt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein sozialdemokratischer Agitator und versucht, das Licht der Aufklärung in die dunkle Provinz der Wälder zu bringen. Sein Parteiauftrag lautet, die Holzfäller und Arbeiter der Sägewerke gewerkschaftlich zu organisieren. Ein mühevolles Unterfangen in dieser im Winter nur wenige Stunden taghellen Landschaft und unter den hier in Armut, harter Arbeit, Entbehrung Lebenden, die von der bigotten Frömmigkeit der Freikirchen geprägt sind. Ein dunkles Buch. Ein Buch des Scheiterns. Aber auch ein Buch, das von dem heroischen Eigensinn seiner Figuren erzählt. Die Sprache ist durchwirkt von dialektalen Einschüben, die der Übersetzer Wolfgang Butt höchst kunstvoll in eine eigene, von fern das Niederdeutsche evozierende Kunstsprache gebracht und somit einen Vorstellungsraum für die vormoderne Gesellschaft geöffnet hat. Per Olov Enquist kennt diese Welt in der Provinz Västerbotten. Im Ort Hjoggböle wurde er am 23. September 1934 geboren und wuchs nach dem frühen Tod seines Vaters, eines Stauers und Holzfällers, bei seiner Mutter auf. Sie war Dorfschullehrerin und Mitglied der Pfingstgemeinde, einer christlichen Erweckungsbewegung, die Enquist, diesen der Aufklärung verpflichteten Autor, emotional tief geprägt hat und in ihm einen bleibenden Zwiespalt schuf. Dieses Christi Blut für Dich vergossen blieb eine Mahnung. Den Glauben hatte er sich, wie seine Mutter sagte, wegstudiert. Aber eben doch nicht ganz, wie man in seinen in der dritten Person geschriebenen Biografien lesen kann. Die dringliche Frage nach dem Sinn des Lebens zieht sich durch alle Werke.
Enquists langsam gesprochenes Deutsch war perfekt und klang im Tonfall weniger schwedisch als das von Lars Gustafsson, der sein wunderbares Jooa wie ein Elch durch die Restaurants röhrte, auch war Enquist nicht gleichermaßen erzählfreudig wie er. Enquist stellte keine Fragen, weder zu meinem Leben noch zu meiner Arbeit. Vielleicht lag es an einer nordschwedischen Dezenz, vielleicht aber auch an der intensiven Beschäftigung mit dem Eisbein, das recht massiv war, oder es hatte seinen Grund darin, dass ich Gustafsson erwähnt hatte und er dachte, mir sei Gustafssons Bonmot bekannt: Enquists Problem sei, dass er nie die 2 Meter übersprungen habe. Immer fehlten ein paar Zentimeter.
Wie beruhigend, sagte ich mir, dass selbst die als so vorbildlich fair geltenden Schweden auch ihre kleinen gehässigen Gegnerschaften haben.
Damals war noch nicht der Roman Gestürzter Engel erschienen. Ein schmaler Band Prosa von einer ganz ungewöhnlichen sprachlichen Kraft und doch von großer Zartheit: Ein Liebesroman und ein Buch über das Monströse. Was ist Liebe? Liebe kann man nicht erklären, schrie sie. Aber man muss es versuchen. Das ist die große Kunst des Per Olov Enquist, wie er das Thema Liebe in seinen Merkwürdigkeiten und Abgründen darstellt. Drei ineinander verfugte, ungewöhnliche Fallgeschichten: Eine Frau, die den Mörder ihres Kindes liebt, die selbstzerstörerische Liebe der Ruth Berlau zu Bertolt Brecht und schließlich die Liebe eines Monsters, wie er sich selbst nennt, Pasqual Pino, in Mexiko geboren, mit ungewissem Geburtsdatum, aus dessen Kopf wie eine Grubenlampe ein zweiter, ein Frauenkopf gewachsen war. Dieser Frauenkopf hatte Augen, einen Mund, Zähne, war sprach-, aber nicht emotionslos. Entdeckt wurde Pino in einem mexikanischen Bergwerk, wo er von abergläubischen Bergleuten als Sohn des Satans zum Schutze vor Unglücksfällen gefangen gehalten wurde. Von einem Impresario entdeckt, wird er – werden sie – die Sensation eines Wanderzirkus'. Eine zärtliche Beschreibung dieser merkwürdigen, von Hass und Liebe bestimmten Wesen, die untrennbar aneinandergebunden, ja verwachsen sind.
Für diesen Nachruf habe ich den Roman jetzt abermals mit Staunen und Bewunderung gelesen – eines der wenigen notwendigen Bücher, notwendig, weil nur durch sie Andersartiges und Unerklärliches verstehbar wird. Eine Geschichte, die in die Abgründe menschlicher Existenz führt. Was ist ein Mensch? Erst das tiefe Unglück der so ganz von der Norm Abweichenden schafft die Evidenz eines geglückten Lebens. Es ist schwer darüber zu schreiben, man muss das Buch lesen.
Enquist hatte sein Eisbein gegessen, auch das Sauerkraut, das Erbsenpüree. Es war, als hätte er sich das Gericht bestellt, um Distanz zu dem Fragenden zu schaffen. Das Erschreckende hat mit dem Risiko zu tun, plötzlich gesehen zu werden, oder vielleicht mit dem Gegenteil, heißt es in Gestürzter Engel. Er trank sein Sprudelwasser, bedankte sich für die Einladung und ging.
Seine frühen Romane hatten damals in Deutschland einen eher kleinen, aber steten Leserkreis gefunden, Jahre später, 2001, sollte Enquist mit dem Roman Der Besuch des Leibarztes der Sprung auf die Bestsellerlisten gelingen.
Erwähnt werden muss auch noch, dass dieser ernsthafte, überaus produktive Autor nicht nur acht weitere Romane, sondern auch Dramen, Kinderbücher, Essays und Drehbücher geschrieben hat.
Vorgeschlagen für die Bayerische Akademie und für die Deutsche Akademie, hatte er sich in beide wählen lassen, kam aber zu keiner Sitzung, stellte sich auch nie vor. So blieb es bei diesem einen Treffen.
Am 25. April 2020 ist Per Olov Enquist gestorben.
Uwe Timm