Clemens Graf Podewils, der langjährige Generalsekretär unserer Akademie, machte uns immer wieder auf Autoren aus Osteuropa aufmerksam. Er ist schuld daran, daß ich den 1974 aus Prag nach München gekommenen Ota Filip im Frühjahr 1976 mit zwei Schülerzeitungsredakteuren in der Amalienstraße in München besuchte und kennenlernte, sein Leser und dann auch Freund wurde und nun einen Nachruf auf ihn schreiben darf, der am 9. März 1930 in Ostrava geboren wurde und am 2. März 2018 in Garmisch-Partenkirchen starb. Das fällt mir aus drei Gründen geradezu leicht:
Erstens kann ich hier öffentlich bekunden, wie dankbar ich ihm bleibe für seine Freundschaft und seine Hilfe über die Jahre hin: Ohne ihn wären die 11 Seiten über »Die unbekannten Nachbarn« – die Tschechen und Slowaken – in der Weilheimer Schülerzeitung »Klecks« im Juni 1976 nicht möglich gewesen; ihm verdanke ich die Bekanntschaft mit Ivan Diviš, den Ota Filip beim ersten Weilheimer Abend mit »Lyrikern im Exil« im März 1987 eingeführt hat; auch erinnere ich mich dankbar an die Besuche bei Ota und seiner besonders liebenswürdigen Ehefrau in Murnau. Schließlich verdankt unsere Akademie ihrem Mitglied seit 1983 noch viel mehr, zuletzt seine Mitwirkung bei Abenden zu Schalom Ben-Chorin am 18.3.2007, mit Jiří Trávníček am 30.11.2008 und zu Horst Bienek am 16.5.2013.
Zweitens war Ota Filip seit seiner Kindheit an Todesfälle gewöhnt, was er in seinem ersten und auch nach 50 Jahren sehr lesenswerten autobiographischen Roman Das Café an der Straße zum Friedhof gleich am Anfang betont:
Vom Vater habe ich das eine mitbekommen: auch ich mag Beerdigungen: feierliche, traurige und prunkvolle mit allem Drum und Dran, mit der Aufmachung in Schwarz, mit dem Leichenwagenkutscher Pleva, der das Gesicht eines notorischen Alkoholikers hatte und mehreren Beschäftigungen zugleich nachging. Am Morgen verkaufte er Zeitungen, um die Mittagszeit handelte er mit Pferden, dann kamen die Beerdigungen an die Reihe, und am Abend fand er sich bei uns zum Saufen ein. Wir betrieben nämlich ein Café. (…) Unser Lokal befand sich in einer schönen, von hochgewachsenen Linden gesäumten Straße; die Häuser hier brüsteten sich voll Stolz mit ihren Balkonen, strahlten Würde und Ruhe aus – durch unsere Straße fuhr keine Tram, bewahre! hier gingen nur die Leichenzüge durch; denn unsere Straße war eine Sackgasse, die an einem prunkvollen Tor zum Friedhof endete.
Und drittens ist der Abschied von Künstlern, besonders von Dichtern, nicht so schwer, weil wir auch nach ihrem Tod mit ihnen im Gespräch bleiben können, wenn wir ihre Bücher lesen. Bei Ota Filip lohnt sich das auch wegen seines Schicksals, das in Ostrau an der Oder begann. Ich selbst wurde zwölf Jahre später oderabwärts bei Breslau geboren, kann mich an die Flucht nicht erinnern, habe seit 1945 mehr als 70 Jahre in Frieden und Wohlstand und in Freiheit gelebt. Ota Filip aber hat, wie er im Prolog zu seinem autobiographischen Roman Der siebte Lebenslauf 2001 schrieb,
sieben Regime, dreizehn Staatspräsidenten, einen Adolf Hitler samt seinem tausendjährigen Reich …, einen Stalin, nebenbei auch sieben Generalsekretäre der UdSSR … erlebt und überlebt.
Vielleicht ist ein solches Schicksal unter ständigem Druck eine Voraussetzung dafür, ein bedeutender Schriftsteller zu werden, was die wie Ota Filip aus Mähren stammende Marie von Ebner-Eschenbach so formuliert hat: »Es schreibt keiner wie ein Gott, der nicht gelitten hat wie ein Hund.«
Ganz so wie ein Gott muß man nicht schreiben, um lesenswert zu sein. Was aber das Leiden betrifft, so läßt Ota Filip schon in seinem ersten Roman den Ich-Erzähler sagen:
Alles, was ich anrühre, schmerzt, schämt und verbirgt sich, und sage nur niemand, die Zeit heile Wunden: das ist eine himmelschreiende Lüge, ein Beruhigungsmittel, Morphium – nichts heilt, nichts hört zu schmerzen auf; ständig tragen wir die alten Narben in uns, und wenn sich nur das Wetter ändert, uns jemand unsanft anstößt oder sich das Gewissen regt, schon erwacht der Hund in uns, und alles ist wieder gegenwärtig: der brennende Schmerz, die Qual, das innere Bluten, alles, was gewesen ist, lebt weiter fort, so lange, bis wir gestorben sind.
Diese Schmerzen waren wohl auch ein Grund dafür, daß Ota Filip seit 1974, also in der zweiten Hälfte seines Lebens, zu einem Brückenbauer zwischen den Tschechen und den Deutschen wurde. Dazu schreibt er im Vorwort zu seinem Buch »… doch die Märchen sprechen deutsch« (1996):
Immer wieder habe ich in den Ruinen, die uns die tschechisch-deutsche Vergangenheit in meiner einstigen Heimat nach 1939 hinterlassen hat, Gemeinsamkeiten entdeckt, verschüttete Grundmauern, abendländisch-christliche Traditionen, auf welchen wir eine gemeinsame Zukunft in Europa aufbauen können.
Auch deshalb haben wir allen Grund, Ota Filip dankbar zu sein und zu bleiben.
Friedrich Denk