Als Kunstform, in der es wesentlich darum geht, ein Kollektiv zu Höchstleistungen anzustacheln, ist das Theater angewiesen auf charismatische Persönlichkeiten. Einige von ihnen haben im Lauf der Jahre und Jahrzehnte den Status von Gurus erreicht: Regisseurinnen und Regisseure, die eine Aura um sich strahlen ließen, die sowohl die Spieler auf der Bühne als auch das Publikum und die Kritik in unerklärliche spirituelle Schwingungen versetzten und deren Name unter einer Inszenierung allein dafür garantierte, es mit einer Art theatergöttlichen Emanation zu tun zu haben, die man als Ausdruck von etwas Höherem nur mit Ehrfurcht und Begeisterung aufnehmen durfte. Ich schreibe das mit Ironie; zum einen, weil ich einer Generation angehöre, die den Glauben an Gurus verloren hat; zum anderen, weil ich von großen Theatermagiern wie Peter Stein, Peter Zadek, Klaus Michael Grüber, Ariane Mnouchkine und George Tabori fast immer nur langweilige oder banale Aufführungen gesehen habe, was entweder einfach Pech war oder dem Umstand geschuldet, dass ich diese ohne Zweifel maßgeblichen Theaterleute als Nachgeborener nur noch in den Selbstzitaten ihres Spätwerks erleben konnte.
Von Peter Brook, dem vielleicht wirkmächtigsten Theaterguru des 20. Jahrhunderts, habe ich nur eine einzige Inszenierung gesehen, Le Costume nach einer Kurzgeschichte des Südafrikaners Can Themba. Mitte der 1990er Jahre war das, da war Peter Brook schon lange eine Legende und jede neue Regiearbeit ein internationales Ereignis. In Erinnerung ist mir davon nur noch das Bild eines älteren Schauspielers, der alleine auf einer leeren Bühne die Fahrt in einer überfüllten Metro darstellt, was lustig und anrührend anzusehen war. Mir schien dieser kaum einstündige Theaterabend wie eine Petitesse, wie die sympathische Laune eines alten Meisters, eine souveräne Fingerübung, wie eine Etüde von Bartók, ganz einfach, aber irgendwie vielleicht genial. Tief beeindruckt war ich nicht und zähle diese Aufführung auch nicht zu denen, die mich etwas Wesentliches über das Theater gelehrt haben. Trotzdem konnte ich mich der Aura des Gurus, die von der Bühne ausging, nicht entziehen. Das hatte viel mit dem Theaterraum zu tun, in dem die Aufführung stattfand. Peter Brook hat sich den für seine Arbeit perfekten Ort geschaffen, das Théâtre des Bouffes-du-Nord in Paris, angesiedelt in einer schrundigen Bahnhofsgegend, dessen einstige Pracht aus der Theaterblüte des 20. Jahrhunderts noch zu ahnen, aber doch gründlich vergangen war. Die Bouffes-du-Nord sahen aus, als seien sie kürzlich abgebrannt und wären nun von einer Vagantentruppe in einer Art Hausbesetzung gekapert worden. So symbolisieren sie bis heute das, was Peter Brooks Arbeit ausgemacht hat: Theater ohne repräsentativen Pomp, ohne Angeberei und Überwältigung, den „leeren Raum“, der sein Markenzeichen war und ihn berühmt gemacht hat. Nicht zuletzt war es ein Aufenthalt im kriegszerstörten Hamburg 1946, der ihn auf diesen Gedanken gebracht hatte. Wie hier in Not und Hoffnungslosigkeit ohne alle äußeren Mittel Theater gemacht und als dringlich empfunden wurde, hat Brook sehr beeindruckt und geprägt. Die Bouffes-du-Nord sind auch eine Art Reverenz an diese Epoche.
Schon Der leere Raum und seine übrigen Schriften zum Theater hätten ausgereicht, um Peter Brook zu einem der einflussreichsten Theaterdenker des 20. Jahrhunderts zu machen. Ich glaube, man kann heute kaum noch ermessen, welche Offenbarung diese Texte für junge Theaterleute ab den späten 1960er Jahren gewesen sein müssen. Sie sahen sich allzu oft dem gegenüber, was Brook „das tödliche Theater“ nannte, ein Theater der Konventionen, der Ausstattungs-Schinken, des Abfeierns eines bildungsbürgerlichen Kanons. Brooks‘ Forderungen waren so einfach wie radikal. Schauspieler und Regisseure mussten die „Heiligkeit“ des Theaters wieder entdecken, es aufs Wesentliche zurückführen, auf die Begegnung der Darstellenden mit einem Text und einer Situation. Er rief dazu auf, auch alte Texte neu zu lesen, nie zu glauben, dass man etwas schon kenne, sich auf keinen vermeintlichen Sicherheiten auszuruhen. Er wusste, dass das Theater auch eine Frage der Mode ist, aber er verabscheute das Konventionelle, das hinter Attributen wie „hoch“ und „edel“ nur seine Spießigkeit und Langeweile zu verbergen suchte. Peter Brook war einer von denen, die die Türen des europäischen Theaters weit aufgerissen und viel frische Luft hereingelassen haben. Sicher war er nicht der einzige, nicht umsonst ist er immer wieder auf seinen Lehrmeister Brecht zu sprechen gekommen. Aber niemand hat die Dringlichkeit eines neuen Theaters so präzise, anmutig und humorvoll formuliert wie Peter Brook.
Brooks Schriften werden bleiben, während seine Inszenierungen versunken sind, das ist das unausweichliche Schicksal aller Arbeit für das Theater. Trotzdem können wir uns nicht von ihm verabschieden, ohne über seine Regiearbeit zu sprechen. Shakespeare war der Fixpunkt, zu dem er immer zurückkehrte. Für Brook war er die perfekte Synthese aus dem „heiligen“ und dem „derben“ Theater. Er brachte nicht nur Shakespeares große Klassiker auf die Bühne, sondern auch die unbekannteren Stücke, um die viele Theaterleute leider einen Bogen machen. Ansonsten interessierten ihn Klassiker deutlich weniger als das Theater seiner Zeit, das die Mehrzahl seiner Arbeiten ausmacht, die Stücke von Beckett, Shaw, Anouilh, Sartre, Peter Weiss, Dürrenmatt, Hochhuth und Caryl Churchill. Als junger Mann inszenierte er einige Opern in Covent Garden und an der New Yorker Met, aber nachhaltiger als diese Frühwerke wirkte seine Carmen 1981 in Paris, in der er Bizets Oper in ein Schauspiel mit Musik verwandelte und in der klischeebeladenen Figur der Carmen eine moderne Frau entdeckte. Peter Brook hat viel gearbeitet, aber gemessen an seinen 97 Lebensjahren ist sein Schaffen sogar eher übersichtlich. Er hat sich nicht vom Theaterbetrieb vereinnahmen und aufreiben lassen, hat seine Arbeiten mit Bedacht ausgesucht und mit größter Genauigkeit, Ernsthaftigkeit und Heiterkeit ausgeführt. Als Akademie dürfen wir stolz sein, diesen Jahrhundert-Theatermann in unseren Reihen gehabt zu haben.
Georg Holzer