Der Anspruch, der von Philippe Jaccottets Werk ausgeht, ist der höchste, nämlich jene „Auffassung von Poesie“, formuliert in der späten Prosa Truinas, 21. April 2001, „nach der die Arbeit des Schreibens und die Form des Lebens, die Art, wie man sich im Leben verhält, untrennbar miteinander verbunden sein müssen“. Es entspricht dem Wesen dieses Dichters, dass sein Anspruch zuallererst ein Anspruch an sich selber ist, eine Forderung an die innere Konsistenz seines Schreibens in einer Gegenwart, die diese Konsistenz ständig bedroht. Dann aber ist es sogleich auch ein Anspruch, der weiter geht, sich an den Leser dieses Werkes richtet, an den Interpreten, den Übersetzer. Ein Anspruch, der hoffnungslos antiquiert, ja naiv scheinen könnte neben einer Literatur, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. Die „Einheit von Leben und Werk“ ist abgelegt unter den idealistischen Illusionen von einst.
In einem ist Philippe Jaccottet ganz sicher nicht naiv: in einem Glauben, Dichtung und Leben wären ganz einfach und durch bloßen Entschluss zur Deckung zu bringen. Im Gegenteil, von allem Anfang an klingt in seinem Werk der Zweifel: „Je älter ich werde, je mehr nehme ich zu an Unwissenheit, / je länger ich lebe, je weniger habe ich, herrsche ich“, das sind Verse aus den frühen fünfziger Jahren; und in der späten Prosa steigert sich das zu wirklicher Härte: „So also: / kein Vorwärtskommen, nicht der kleinste Schritt nach vorn, eher ein Zurückweichen hier und da, und nichts als Wiederholungen. / Kein wahrer Gedanke. Nichts als Stimmungen, wechselnde Stimmungen, die immer weniger zueinander passen; nichts als Brocken, Krümel von Leben, Gedankenähnliches, aus einem Zusammenbruch gerettete Bruchstücke, die diesen vielleicht noch verschlimmern ... (Trotzdem, einer schreibt da noch auf Wolken.)“ Manchen hat diese Härte verstört, mit der Jaccottet sein eigenes Werk immer wieder und immer mehr in Zweifel zieht, doch ist sie nichts anderes als die Weigerung, Kunst als angenehmes und nützliches Spielwerk zu verstehen. „Was habe ich gewollt? Ich habe nie wirklich etwas gewollt“, schreibt Jaccottet 2003 im Vorwort zu seinem Band Der Unwissende, einer schmalen, vorläufigen Auswahl aus seinem Lebenswerk. Doch auch dieses Vorwort endet mit einem für Jaccottet so charakteristischen „dennoch“, „aber“, „trotzdem“: „Wenn ich doch etwas gewollt habe in meinem Leben, in dieser Arbeit, dann dies: So wenig wie möglich zu mogeln; weder der Versuchung der Eloquenz nachzugeben noch den Verführungen des Traums oder den Reizen des Ornaments; genausowenig den gebieterischen Vereinfachungen des Intellekts oder dem falschen Glanz der Okkultismen.“
Philippe Jaccottet, der am 30. Juni 1925 in Moudon, im Schweizer Kanton Vaud, geboren wird und, nach einem kurzen Aufenthalt in Paris, seit 1953 mit seiner Frau, der Malerin Anne-Marie Jaccottet, im südfranzösischen Grignan, in der Drôme, lebt, ist alles andere als ein weltfremder Asket: Vielmehr verdient er sein Brot und das einer vierköpfigen Familie ein Leben lang als unermüdlicher Arbeiter im Weinberg der Literatur, als Übersetzer, Herausgeber und Rezensent, und unter den zahllosen Übersetzungen sind nicht nur Mandelstam, Ungaretti, Hölderlin und Musil, sondern auch mancher Roman, der kaum Anspruch hat auf die relative Ewigkeit der Literatur, und das Gleiche gilt für die vielen hundert Aufsätze und Rezensionen: Der große Lyriker Philippe Jaccottet betreibt jenes „zweite Handwerk“ der Literatur, von dem Montale spricht, und er betreibt es mit der gleichen Konsequenz, Genauigkeit wie das erste. Dass sein poetisches Gesamtwerk 2015 bereits in die Klassikerreihe Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen wird, ist eine ungewöhnliche Ehrung zu Lebzeiten; dass er noch 2021 mit Clarté Notre-Dame ein tief bewegendes Spätwerk vollendet, ein großes, ganz unverhofftes Glück.
Am 24. Februar 2021 ist Philippe Jaccottet in seinem Haus gestorben, in seinem Grignan, das durch ihn ein Ort der Poesie geworden ist; in den Worten des unvergessenen Friedhelm Kemp: „Dass diese Landschaft der Drôme hinfort aus der französischen Dichtung, wie Francesco Petrarcas Vaucluse aus der italienischen, nicht fortzudenken ist, das bedeutet doch so etwas wie eine Eroberung und einen bescheidenen Kranz.“ Vielleicht ist gerade daran zu erkennen, dass Philippe Jaccottet seinen eigenen Anspruch, seine Auffassung von Poesie, tatsächlich auf bewundernswürdige Weise verwirklicht hat, allem Unwissen, aller Unsicherheit, allem Zweifel zum Trotz.
Wolfgang Matz