Pierre Boulez wurde am 26. März 1925 in Montbrison an der oberen Loire geboren. Er stammte aus einer großbürgerlichen Industriellenfamilie, sollte ursprünglich Naturwissenschaften oder Mathematik studieren. Er begann auch mit Mathematik in Lyon, wechselte dann aber bald nach Paris der Musik wegen, wo er in den frühen 40er Jahren bei Rene Leibowitz mit dem Denken der zweiten Wiener Schule vertraut gemacht wurde. Sein zweiter, ebenso renommierter Lehrer war Olivier Messiaen. Die intellektuelle und künstlerische Autorität dieser Lehrer weckte bald den Widerspruchsgeist des jungen, hochbegabten Boulez, wie überhaupt Autoritäten es mit Boulez schwer hatten, man denke nur an das schnöde: »Schönberg est mort«, das er 1951 dem Vater der Dodekaphonie nachrief, Würdigung und Abstoßungsreaktion von einem fremden Bezugspunkt. Sehr konzentriert und entschieden arbeitete Boulez in den späten 40er und den frühen 50er Jahren an seiner eigenen künstlerischen Laufbahn, deren Charakteristikum ein Integral aus Analyse, Interpretation und Komposition bildete und lebenslang zu einer spezifischen ästhetischen Wachheit in Fragen der musikalischen Praxis und Theorie führte, einer Wachheit, die von anderen oft als rigorose Schroffheit erfahren wurde. Dahinter stand aber für Boulez die Erkenntnis, daß man keine Erneuerung ohne ein gewisses Machtbewußtsein durchsetzen kann. Sowohl als Komponist als auch als Dirigent wußte er die richtigen Schritte zu setzen, um Einfluß zugewinnen. Dieser Einfluß galt aber nicht der Person, sondern der »Sache« der Musik, wobei er immer die »Neue« Musik als Fortentwicklung der Tradition begriff und auch so vermittelte. Er war einer der ersten, der dezidiert »alte« Musik mit »neuer« in Konzerten kombinierte. Geschichtsträchtig sind die Ensemble- und Format-Gründungen durch Boulez, so 1953 in Paris die Konzertreihe Domain musical oder 1976 ebenfalls in Paris und vom französischen Staat unterstützt die Gründung des Ensemble Intercontemporain. Geschichtsträchtig auch sein Auftreten und Wirken bei den internationalen Darmstädter Ferienkursen in den frühen 50er Jahren, wo er – noch nicht 30 jährig – mit seinen etwa gleichaltrigen Kollegen Nono und Stockhausen um die Wortführerschaft in Sachen »Neue Musik« rang. Die internationale Karriere von Boulez als Dirigent begann 1958 mit seiner Einladung zu den Donaueschinger Musiktagen, wo er als »undirigierbare« geltende Stücke, auch eigene, zur Uraufführung brachte. 1958 markiert auch den Beginn des »deutschen« Lebens von Boulez, denn seit diesem Jahr ließ er sich in Baden-Baden nieder. Über die Neue-Musik-Szene hinaus bekannt machten ihn nicht zuletzt seine Dirigate in Bayreuth (1966 Parsifal, 1976 der »Jahrhundertring« mit Patrice Chereau und 2004 die Parsifal-Inszenierung von Christoph Schlingensief). Als Gast oder als Chef: Gewichtige Posten waren Cleveland, BBC Symphony Orchestra London und New York Philharmonic, aber auch Wien und Berlin. Als Dirigent wirkte Boulez für viele jüngere stilbildend, kenntlich an seiner zurückgenommenen Körpersprache, stets ohne Taktstock, mit eminent präzisen Handbewegungen, ohne emotionale»Turnübungen«. Sein Stil als Komponist hat sich aus den subkutanen, phantastischen Rigorismen der frühen seriellen Werke entwickelt hin zu einer Musik, die alle innere Struktur nun an ihrer Oberfläche zur Erscheinung bringt, ja manchmal nur Oberfläche zu sein scheint, fast vegetativ blühend, virtuos, vielschichtig, Geste, Farbe und Figur ihre Reverenz erweisend. Den immer suchenden und sich selbstbefragenden Künstler Boulez kennzeichnet hier ein besonderes Moment: alle seine Werks schienen mit ihm zu leben, mit ihm zu wachsen, kein Entwicklungsschritt galt als gesichert: denn Boulez hat immer wieder – über Zeiträume von 30, 40 Jahren hinweg – frühere Werke überarbeitet, erweitert, ihnen die Chance der Weiterentwicklung gegeben, ihr Entfaltungspotential gesehen und zur Erscheinung gebracht, und damit wie kein zweiter dem Lebendig-Sein des Kunstwerks gehuldigt, wie ein getreuer Diener. Am 5. Januar 2016 ist Boulez im 91. Lebensjahr gestorben.
Nikolaus Brass