Ordentliches Mitglied der Abteilung Darstellende Kunst
Wir inszenieren den Tod, wir spielen das Sterben, mal besser, mal schlechter. Aber alle ästhetischen Kriterien der Kunst versagen vor der Wirklichkeit:
Rolf Boysen ist tot.
Uns beide verband unser übereinstimmendes Verständnis vom Theater, was es ist und was es sein müsse. Die gemeinsame Arbeit des Schauspielers und des Regisseurs an Texten, an Figuren, an der Verkörperung der Sprache und der Darstellung von Gefühlen. Rolf hat das beschrieben als „das langsame Entstehen eines Menschen auf der Bühne, ohne zu menscheln“.
Wir haben uns vertraut, ganz und gar. Dafür bin ich dankbar. Das war die Basis aller unserer Arbeiten und Auseinandersetzungen auf der Bühne. Beginnend 1974 im Berliner Schillertheater mit Thomas Bernhards Jagdgesellschaft, Rolf Boysen, Marianne Hoppe und Bernhard Minetti. Dann 35 Jahre in München: Herzog Orsino, der versucht – wie die anderen Figuren in Was Ihr wollt – vor dem Tod die Liebe zu erfahren; Odysseus, dem die List alles ist; der Artist Karl in Der Schein trügt: der Versuch, die Wahrheit der Kunst in der „Lüge“ zu finden; der große Kurfürst, der dem Prinzen von Homburg klar macht, was Verantwortung ist, für Menschen und für den Staat; der Dorfrichter Adam, dem Kleist die ganze Welt, die ganze menschliche Existenz aufbürdet; Lear, Shylock, bis zu Dionysos, dem fürchterlichen Theatergott, der alle und alles zerdreht, jede scheinbare Sicherheit zerstückelt, buchstäblich alles auflöst.
Beim Erinnern fällt mir auf, daß die Figuren, die Rolf spielte, immer auch gegen sich selber kämpfen, nie eindeutig sind. Das gilt für Karlos im Clavigo und für Othello, in den Inszenierungen Kortners, das gilt auch für Wallenstein.
Vielleicht ist es genau die Einheit der Widersprüche und Spannungen in einer Figur, die Boysen aufspürt, vielleicht ist es das überhaupt, was seine Schauspielkunst so besonders macht: die Widersprüche nicht als Brüche zu verstehen und zu zeigen, sondern sie so in eine Figur zu binden, daß sie unmittelbar zu deren Existenz und Wahrheit gehören. Und zwar nur zu ihrer ganz eigenen Wahrheit, nicht zu ihrer sozialen und ideologischen, nicht einmal zu ihrer psychologischen.
Als Beispiel: Das Rechthaben-wollen Lears, das Boysen bis in den kindlichen und kindischen Trotz des alten Mannes treibt, und der Absturz in die nackte Existenz.
Dann wäre das Besondere seiner Darstellung einer Figur, daß sie nicht dialektisch verstanden wird, und damit auch nicht mit Distanz oder Ironie, aber auch nicht in Gegensätzen. Boysens Figuren können nicht anders. Sie tragen bereits jeden ihrer Konflikte in sich. Sie werden also nicht nur von außen attackiert, sondern sie greifen sich selbst an. Boysen zeigt das bis in die kleinste Geste: Die Anklage Shylocks gegen Antonio in Shakespeares Kaufmann. Da erklärt sich einer selbst, heftig und eindringlich in Sprache und Gestik, warum auch er nicht anders kann, obwohl er es besser weiß.
Mehrfach haben Rolf – und auch ich – uns geäußert zu unserem Zugang zu der Szene in der Heide im König Lear. Ich erzähle Sie hier in seinen Worten:
„Als wir König Lear probten und ich mich mit Erdung und Genauigkeit um diese Verzweiflungsszene auf der Heide bemühte und Dorns große Scheu spürte, wie wir diese existenzielle Situation angehen sollten, sagte er plötzlich: „Stell Dir einen Rentner vor im Englischen Garten.“ Aber er meinte damit etwas viel Weitreichenderes, er war noch auf eine ganz andere Kraft aus. Es ging darum, im Gewöhnlichen das Außergewöhnliche sichtbar zu machen. Und das gelingt, wenn man auf das Gewöhnliche einen so aufmerksamen Blick wirft, denn im Gewöhnlichen schlummert das Außergewöhnliche. Allein der Rentner, das wäre zu klein gewesen. Jetzt kam Musikalität ins Spiel, das Gefühl für die Musikalität der Sprache und des Sprechens, die ihm und damit mir die Möglichkeit gab, in nicht beschreibbare Räume vorzudringen. Und wir fanden zu einem magischen Punkt, zu einer Größe, zu der ich am Anfang gar nicht den Mut gehabt hätte, sie überhaupt zu denken. Diesen Moment festzuhalten – bis über die Premiere hinaus für alle folgenden Vorstellungen– ist das Schwerste. Wir haben den Lear immerhin 103-mal gespielt, 1992 war die Premiere,1999 an Silvester die letzte Aufführung in den Kammerspielen. Dem folgte 2001 der Shylock im Residenztheater, den habe ich 102-mal gespielt. Und immer wieder mußte ich aufs Neue feststellen: Die Schauspielerei ist etwas Seltsames. Es ist ja keine Verwandlung, die man da durchmacht; man kann sich nicht verwandeln, man bleibt immer der, als der man aufgewachsen ist, der seine Erfahrungen gesammelt hat im Leben, gute und schlechte. Als Schauspieler gießt man diese nur in die Form, die der Dichter sozusagen vorgemeißelt hat, und versucht, da Leben hineinzupusten.
Aber was ist das Leben? Leben ist ja nicht, daß man dauernd herumläuft und schreit, sondern Leben ist wiederum von dem, der es darstellen will, Verinnerlichung. Das ist ein seltsamer Vorgang, der in einem stattfindet. Aber das ist es, was den Beruf so schön macht.Wenn man ihn wirklich ernsthaft betreibt, spürt man etwas Erlösendes. Da steht man am Schluß auf der Bühne, ist vielleicht ganz naß von Schweiß, und man merkt, daß der eine oder andere im Parkett das vielleicht mitempfunden hat. Das spürt man schon während des Spiels sehr genau, wenn es nämlich plötzlich in der Stille des Zuschauerraumes noch stiller wird. Ich bin überzeugt, daß Menschen, die miteinander einen schlechten Tag hatten, wieder zueinanderfinden, wenn es ein schönes Theaterstück und ein gelungenes Spiel ist. Diese Bühne, auf der Leute stehen und miteinander reden, hat etwas Versöhnliches. Ein Momentdes Glücks.“
Deutlich ist, daß Boysen nicht nur die Widersprüche innerhalb einer Figur erfaßte, gut und böse, sondern ebenso die Widersprüche und Spannungen, die das Theater und seine Kunst ausmachen – sein Paradox: Vernunft und Magie, Sprache und Körper, Text und Szene,Emotion und Darstellung der Emotion. Das eine und das andere: Die Suche nach dem Gewöhnlichen im Außergewöhnlichen und dem Außergewöhnlichen im Gewöhnlichen.Rolfs Spiel ist bestimmt durch sein absolutes Formbewußtsein.
Er sagt „Ich habe immer gewußt, was und wie ich es mache – jeden Abend. Was ich über die Rolle weiß, habe ich erworben. Aber ich muß wissen, wie ich das zeige.“ Darin bestand für ihn die Verantwortung des Schauspielers für die Figur, die Sprache, das Theater. Der eigene Widerspruch folgt: „aber man steht ja auf der Bühne nicht neben sich“, um sich zu beobachten.
Rolfs Form ist die ganz eigene Verbindung von Sprache und Geste, die Beredsamkeit des Körpers, die Haltung. Niemals ist für ihn die Geste Illustration des Gesprochenen, immer ist sie Abstraktion, das Erfassen eines Vorganges und der Sprache mit dem Körper, fern von so genannter Natürlichkeit und vom Pseudo-Realismus des „Lebens“. Vielleicht sollte man hier gar nicht von der Sprache, sondern von Sprechen reden: Boysen ist kein Sprachkünstler, sondern ein Sprechkünstler. /(Gerhard Stadelmeier nennt ihn im Nachruf einen „Sprechgestenspieler“)/ Ein Sprechkünstler und Gestenerfinder, der sich in einen Textversenkt, in seine Geheimnisse, seinen Klang und seinen Rhythmus, um ihn dann darzustellen. Rolf hat darauf hingewiesen, daß er durch den Krieg wenig Literatur gelesen hatte. So lernte er die großen Texte zunächst im Theater unter dem Aspekt einer bestimmten Rolle kennen. Also dramatisch, also engagiert: große Literatur war ihm „große Wucht, große Gewalt“. Nicht im Inhalt, sondern im Rhythmus, in der Struktur der Sprache, im Ausdruck.
Literatur als Form, um einen menschlichen Ausdruck im Sprechen und in Mimik und Geste zu finden.
Die Darstellung ist das Ziel. Wie der Text Körper wird, das ist seine Frage. Wie sie eine Einheit bilden und welche Rolle dabei „die Seele“ spielt. Es geht um Verstand und Gefühl, um Kopf und Herz. Und gleichzeitig warnt Boysen vor Pathetik und Unverständlichkeit. Thomas Holtzmann, den er einen „Gefühlsunterspieler“ nennt, war ihm nahe – nicht nur in der Garderobe, die sie jahrzehntelang teilten.
Lieber Rolf – in Schmerz und Trauer – einen uns verbindenden Satz von Sokrates in Platon„… daß wir aber, wenn wir glauben, das suchen zu müssen, was wir nicht wissen, besser werden und mannhafter und weniger träge, als wenn wir glauben, was man nicht wisse, sei nicht möglich zu finden, und man müsse es also auch nicht erst suchen, dafür möchte ich allerdings streiten, wenn ich es könnte, mit Wort und Tat.“
Dieter Dorn