Ein spätes Gedicht Ror Wolfs hat den Titel »Dritter unvollständiger Versuch das Leben zu beschreiben« und lautet so:
Zweiunddreißig, Juni, nachts zwei Uhr,
als ich nass aus meiner Mutter fuhr,
als ich stumm aus meiner Mutter kroch,
aus dem einen in ein anderes Loch,
aus dem Fleisch heraus hinein ins Leben,
sagte man zu mir: So ist das eben.
Im November nachts Zweitausendeins
lag ich nackt und aufgeschlitzt in Mainz,
tief im Blut und alle Tropfe tropften,
die Kanülen, die Katheter klopften,
alles floß hinein in das Plumeau,
und man sagte mir: Das ist halt so.
Der Autor hat hier seine Geburt und seine gesundheitliche Krisis in charakteristischem Duktus fixiert. »Zweiunddreißig«: Geboren wurde Ror Wolf (als Richard Georg Wolf) am 29. Juni dieses Jahres in Saalfeld in Thüringen. Er blieb etwa zwei Jahrzehnte in der DDR, die er schließlich 1953 verließ, nachdem ihm ein Studium wegen seiner bürgerlichen Herkunft unmöglich gemacht worden war (nach dem Abitur arbeitete er auf dem Bau). Im Westen konnte er dann an der Universität Frankfurt ein Studium aufnehmen; in der dortigen Studentenzeitschrift Diskus erschienen seine ersten Prosastücke und Gedichte, die mit ungewöhnlicher Souveränität bereits typische Züge seines reifen Werkes zeigten, wie etwa die allererste Veröffentlichung »Entdeckung hinter dem Haus« (1958, später in der Sammlung Dankeschön. Nichts zu danken, 1969). Er wurde Feuilletonredakteur dieser Zeitschrift und 1961 Literaturredakteur beim Hessischen Rundfunk, um ab 1963 als freier Schriftsteller zu arbeiten.
Gelegentlich von Stipendien und Preisen unterstützt (unter anderen Bremer Literaturpreis 1992, Frankfurter Hörspielpreis 1992, Heimito-von-Doderer-Literaturpreis 1996, Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 2003, Hölderlin-Preis 2008, Schiller-Gedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg 2016), lebte er seit Mitte der siebziger Jahre in Mainz, wo er am 17. Februar 2020 nach langer Krankheit verstorben ist.
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schwarz um die ecke pfeifend kommt die nacht
(„der feiertag des schutzmanns“)
Mit Ror Wolf, der seit 2010 Mitglied der Akademie war, hat die deutsche Literatur eine in ihrer kunstvollen Beiläufigkeit höchst eindringliche, unverwechselbare Stimme verloren. Ihre Merkmale lassen sich schon in den ersten Büchern Wolfs analysieren (Fortsetzung des Berichts, 1964, und Pilzer und Pelzer. Eine Abenteuerserie, 1967).
Eine einzig dastehende Kaltblütigkeit, sagt Wobser und saugt an seiner Zigarre. Sie müssen wissen, die Frau des Kochs, eine schwere, um nicht zu sagen fette Frau, eine große, vielleicht schöne Frau. Seine Erzählung handelt von der Tötung eines weißgekleideten Menschen, des Kochs, von der von der Frau ausgeführten Zerstückelung seines Körpers, eine lange Geschichte, sagt Wobser und schildert das Umfallen eines Körpers, sein Schreien und sein Verstummen. Die dunklen blutbefleckten Gänge seiner Geschichte führen in eine Zeit, in der es mehr Nacht war als Tag, eine Art Hungerzeit, alle Personen dieser Zeit schrumpften zusammen, magerten ab, schleppten sich mühsam ins Bett und aus dem Bett heraus und wieder ins Bett und verbrachten ihre ganze Zeit eigentlich nur im Bett, alles war welk und fruchtlos und verdorrt, mürbe und kahl, man lebte, hören Sie, sagt Wobser, von Ungeziefer Unrat Abfällen, von dem was man fand und aufhob und ohne Abputzen verzehrte, man stülpte die Taschen um und fand Filzfusseln und Schmutz in der untersten Spitze der Hosensäcke, wie sie genannt wurden, Hosensäcke, und verzehrte auch das, es war eine Zeit, sagt Wobser, in der der Koch keinen Platz hatte, nur mit aufgestülpten in Erinnerungen schmatzenden Lippen am Küchentisch saß, die Quirle Kartoffelquetscher Krauthobel Gewürzbüchsen Zwiebelbretter befühlte und beroch, doch sie hatten den Geruch nach Eßbarem verloren, enttäuscht verzog sich das Gesicht des Kochs, Enttäuschung sprach auch aus seinen Worten, die eines Tages beendet wurden, mitten im Satz abgeschnitten abgehackt wurden, das Abbrechen der stimme, Stille, hören Sie, Stille, sagt Wobser, er deutet auf seine Zigarre. (Fortsetzung des Berichts, S. 179 f.)
Hier liegen charakteristische Techniken des Autors in nuce vor: das Ineinander von extrem haptischen und ganz abstrakten Tonlagen (»das Umfallen eines Körpers«), die kommalosen Aufzählungen, die bizarren Verallgemeinerungen (»alle Personen dieser Zeit schrumpften zusammen«), der plötzliche Stillstand, die Adjektivkaskade, die unerwartete Isolierung eines beliebigen Wortes (»Hosensäcke«), der unwirkliche Grand Guignol von Mord und Blut, die insistente Stimme eines nicht greifbaren und seiner Narration nicht sicheren Erzählers (»eine … vielleicht schöne Frau«), eines Erzählers, von dem wir Leser am Ende nur die Zigarre zurückbehalten.
Ihren in gewisse Weise nie überholten, sondern stets liebevoll rekonstruierten Höhepunkt erreicht diese Form der Narration bereits mit Pilzer und Pelzer.
»Alles warf schon seine Schatten voraus. Knackend löste sich etwas ab, platzte, glaube ich, und kroch über die Wand, während die Meeresgeräusche hereingespült wurden, das verstopfte Hupen der Barkassen, das gequetschte Schreien der Möwen.« (S. 43)
Das schmale Buch, so etwas wie der Phänotyp des Wolfschen Erzählens, variiert in Aufblähungen und Abbrüchen die vage Grundsituation, dass der Erzähler ein Haus besucht, um dort Pilzer und Pelzer zu begegnen und »der Witwe« zu kondolieren, in einem unberechenbaren Rhythmus von Verlangsamung und Beschleunigung (Verlangsamung der Geschichte bis zu ihrem völligen Erliegen und rasende Beschleunigung bis zur vollkommen halluzinatorischen Fülle). Die einzelnen Kapitel dieses Buches, so hat es der Autor formuliert, seien Pasteten, die jeweils mit dem Stoff von Abenteuer-, Kriminal-, Horror- und Reisegeschichten gefüllt seien. Der Untertitel des Buches lautet »Eine Abenteuerserie«. Neben der gastronomischen Metapher des Vollstopfens einer Pastete steht natürlich im Werk von Ror Wolf zentral die Metapher des Schnittes, des Schneidens, lautet doch ein Pseudonym von ihm »Raoul Tranchirer«, was gewiß eine tückisch-gemütliche Jack-the-Ripper-Anspielung auf die ihm kongeniale Moritatenwelt ist, aber ebenso gewiß seine Leidenschaft für die kunstreichen Collagen fixiert, mit denen er zusehends seine Texte illustrierte; sie stehen in der Nachfolge des Max Ernst der Semaine de bonté, wie denn insgesamt das Werk Wolfs eines der wenigen interessanten deutschen Seitenstücke zum Surrealismus abgibt.
Zu dieser Montagetechnik gehört unbedingt auch Ror Wolfs Fähigkeit, mitgehörte Alltagssprachlichkeiten zu sehr anspruchsvollen Formen zu collagieren; dies ist entscheidend für den gewiß bekanntesten Teil seines Werkes, die Fußballtexte. Hier möchte ich pars pro toto eines (das vierte) der »12 Rammer & Brecher Sonette« aus dem Jahre 1973 zitieren. Der Titel nimmt berühmte Übernamen bestimmter Fußballspieler auf.
Das ist doch nein die schlafen doch im Stehen.
Das ist doch ist das denn die Möglichkeit.
Das sind doch Krücken. Ach du liebe Zeit.
Das gibts doch nicht. Das kann doch gar nicht gehen.
Die treten sich doch selber auf die Zehen.
Die spielen viel zu eng und viel zu breit.
Das sind doch nein das tut mir wirklich leid.
Das sind doch Krüppel. Habt ihr das gesehen?
Na los geh hin! Das hat doch keinen Zweck.
Seht euch das an, der kippt gleich aus den Schuhn.
Ach leck mich fett mit deinem Winterspeck.
Jetzt kippt der auch noch um, na und was nun?
Was soll denn das oh Mann ach geh doch weg.
Das hat mit Fußball wirklich nichts zu tun.
Die lange, 1982 mit Das nächste Spiel ist immer das schwerste beendete Liebesaffäre mit dem Fußball, die Popularität und die hohe Komik der Fußballtexte Wolfs haben vielleicht einem Teil der Literaturkritik den Blick auf seine radikale Ernsthaftigkeit verstellt. Die Fußballgedichte sind »Verkuppelungsversuche«, wie der Autor schreibt, »von strenger Kunstform und rabiatem Inhalt«; dies gilt gewiss auf etwas andere Weise auch für die melodramatischen, reißerischen »Pasteten«, deren Genrereize sich sofort wieder »streng« in reine Sprache auflösen, und für sein erzählerisches Werk überhaupt. Ror Wolfs Erzählen ließ sich zwar mit dem des nouveau roman etwa von Robbe-Grillet vergleichen, doch hat Wolf die Fiktion einer kohärenten Romanhandlung ungleich konsequenter subvertiert.
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Eigentlich geht um mich herum nichts anderes vor als das, was ich beschreibe.
Ror Wolf in einem Interview 1971
Wolf hat gesagt, sein Ideal sei es, ein Buch aus dem Regal zu nehmen und »man liest zehn Seiten und stellt es wieder weg, und man nimmt es wieder heraus und liest wieder zwanzig Seiten oder fünf oder zwei Seiten und stellt es wieder weg.« Diese Nonchalance darf allerdings nicht über den extrem sorgfältig konstruierten Charakter der Werke hinwegtäuschen. Aber vielleicht sind das eigentliche Thema dieser Texte die Unschlüssigkeit des Erzählers, seine assoziative Verführbarkeit, seine Neigung zum Stocken und Neu-Ansetzen, zu einem ungewissen und gelegentlich ein wenig missmutigen Hin und Her zwischen verschiedenen Möglichkeiten, und am Ende seine Unberührbarkeit und Unrührbarkeit. Also seine Ähnlichkeit mit uns Lesern. Die Erzählung tut, was sie kann – sie flüchtet sich in Genauigkeit: »Pelzer, oder dieser Mann, der wie Pelzer aussah, oder jedenfalls so aussah, wie ich mir Pelzer vorstellte« … Sie zelebriert die mühelose Kunstfertigkeit der Evokation einer beliebigen Atmosphäre, die jeweils von höchster Intensität ist, um sofort zu verlöschen.
Der ewigen Stockung und Bremsung des zerstreuten Phantasierens entspricht bei Ror Wolf die grenzenlose Öffnung der sprachlichen Möglichkeiten für einen Moment. Die Sprache vermag alles – für einen Augenblick. Die Texte Wolfs sind Studien darüber, was sich eine Stimme selbst für Abenteuer mit Wörtern bereiten kann. Aber diese Abenteuer bleiben Klassifikationen der Wolken am imaginären Himmel und kleine Laterna-magica-Bildchen, zwar von glühender Leuchtkraft, doch immer wieder sofort verschwunden wie der wiederkehrende Satz: »Am Horizont plötzlich ein rasch laufender Mann.« Das kann man schreiben, dann steht es da. Dann ist es ein Abenteuer. Das Rührende, Hinfällige, Kontingente von Fiktion ist das eigentliche Thema, und es ist vielleicht niemals so verliebt behandelt und so stringent aufgefasst worden.
Das verzweigte Werk Ror Wolfs erweckt den Eindruck von barocker Unerschöpflichkeit und dabei strenger, in kalkulierter Wiederholung inszenierter Struktur – die balladesken und grotesken Moritaten, die etwa dreißig Hörspiele und Radiocollagen (für Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika – 1986 – erhielt er 1988 den Hörspielpreis der Kriegsblinden). Es findet in Wolfs Texten eine Entgrenzung statt, deren Logik in den späten Werken ganz klar wird: Es ist, mit einer überraschenden Volte, die Entgrenzung des Lexikons. Das Ineinanderschneiden der geographischen Beschreibung, des Kolportageromans, der medizinisch-pathologischen Deskription, des erotischen Tagtraums, des Vampirfilms, der Werbung und so weiter ist panoramatisch wie eine Enzyklopädie, die nichts mehr privilegiert und alles nebeneinander stellt. Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt, so beginnt das 1983, und sieben Bände dieser sogenannten »Enzyklopädie für unerschrockene Leser« sind in den Jahren 1983–2014 erschienen. In diesen Nachschlagewerken, die einen mit guten Ratschlägen »für alle Fälle der Welt« überwältigen, ergibt sich aus der Akkumulation von Details aus alten Texten wie Die tüchtige Hausfrau mit ihren Illustrationen nichts Hilfreiches, nur ein endloses Kontinuum aus sanfter Ver-Rücktheit, Verschrobenheit, Verschobenheit, aus ins Nichts führenden (und dabei unendlich detaillierten) Hinweisen. Deutlich wie nie zeigt sich Ror Wolf hier als kunstvoller Erzeuger der Ratlosigkeit des Lesers.
Etwa ein Jahrzehnt vor seinem Tod hat Ror Wolf Abschied von der Figur genommen, die ihn so lange begleitet hat, dem Moritaten-Protagonisten und mysteriösen Detektiv Hans Waldmann. Das Poem heißt »Das Zerfließen«.
Waldmann will jetzt, in den letzten Stunden,
noch einmal die ganze Welt umrunden.
Diese Welt ist weich und nass und kahl,
hoch und tief und weit und breit und schmal.
Er sieht Dächer aufgeplatzt und Wände
Eingestürzt im Eisenbahn-Gelände.
Auf den Straßen liegt der schwarze Schnee.
Schlamm quillt dampfend aus dem Nachtcafé.
Auf dem Billardtisch, im Lampenlicht,
liegt die Dame, Waldmann kennt sie nicht,
aufgeschlitzt, gespreizt und ausgebleicht,
nackt und kalt am Abend, seidenleicht.
Waldmann sieht den Himmel stumm und schwer.
Danach sieht Hans Waldmann gar nichts mehr.
Doch er hört etwas, er hört ein Fließen,
ein Zerfließen, Schießen, ein Ergießen.
Alles das hört Waldmann, dunkel, kalt,
etwa achtundsiebzig Jahre alt.
Karl Heinz Bohrer hatte 1969 in der FAZ geschrieben, Wolf solle nicht nur »auf das Wort setzen«, sondern »sein Thema, die Angst, beherzigen, sie zu seiner Angst machen.« Hierzu Wolf lakonisch: »Die Problematik des Existentialismus, auf die Bohrer da vielleicht anspielt, … hat für mich keine Bedeutung mehr. Ich setze aufs Wort. Angst habe ich genug.«
Der Verfasser des Nachrufs hat auf einige Formulierungen und Zitierungen aus seiner Laudatio auf Ror Wolf anlässlich der Verleihung des Rainer-Malkowski-Preises 2018 zurückgegriffen, um nicht auf allzu viel dort bereits Gesagtes verzichten zu müssen (vgl. Bayerische Akademie der Schönen Künste, Jahrbuch 33 / 2019, S. 297 ff.)
Joachim Kalka