Ruth Rehmann war die unbekannteste unter den bekannten Schriftstellern der Bundesrepublik. Sie war – wie Barbara König, die den Wahlantrag für Ruth Rehmann zur Aufnahme in unsere Akademie gestellt hat – unangepaßt, aufmüpfig, originell und sehr scharfsinnig. Nach dem Abitur im Jahre 1940 besuchte die Tochter eines evangelischen Pfarrers in Hamburg die Dolmetscherschule und lernte Englisch und Französisch, nicht gerade die beliebtesten Sprachen in der Hitlerzeit. Es folgte ein Studium der Archäologie, Kunstgeschichte und Germanistik und ein Musikstudium mit dem Hauptfach Geige, das sie – mit einer kriegsbedingten Unterbrechung – 1951 in Düsseldorf abschloß. Sie war ausgebildete Geigerin, verdiente ihr Geld aber als Pressereferentin verschiedener Botschaften, als Übersetzerin, aber auch als Sängerin oder Hilfslehrerin an bayerischen Landschulheimen. Sie konnte sogar die Fähre im Chiemgau steuern, wenn es sein mußte und sie Geld brauchte.
Sie hatte kein leichtes Leben, machte es sich aber auch nicht leicht. Nach ihrem ersten Roman, Illusionen (1959), vergingen zehn Jahre, bis sie mit ihrem zweiten Roman Die Leute im Tal Anerkennung fand. Und wieder zehn Jahre, bis sie mit ihrem Vater-Roman Der Mann auf der Kanzel, 1979, den Durchbruch schaffte und Ruth Rehmann als eine der wichtigsten realistisch-kritischen Stimmen der Gegenwart wahrgenommen wurde. Die folgenden Romane, Abschied von der Meisterklasse, Die Schwaigerin, Fremd in Cambridge und Ferne Schwester haben alle einen autobiografischen Hintergrund und lesen sich wie eine kluge Sub-Geschichte der Bundesrepublik: der Aufbruch nach dem Krieg, die trügerische Idylle der Adenauerzeit, das Auseinanderdriften von Stadt und Land. Anders als andere Autorinnen ihrer Generation wurde sie mit Preisen nicht verwöhnt, sie war 88 Jahre alt, als sie den Rosenheimer Literaturpreis erhielt. Ruth Rehmann war in der Friedensbewegung aktiv und kandidierte 1983 für die Grünen im Bundestag.
Wer diese bescheidene, wache, kluge Frau kennenlernen durfte, wird sie nicht vergessen. Hoffentlich wird ihr Rang als Autorin von einer zukünftigen Literaturgeschichtsschreibung richtig eingeschätzt.
Michael Krüger