Die Romane von Sibylle Lewitscharoff zählen zu den bedeutendsten ihrer Generation. Ihre Beherrschung der Sprache, die sie mit magistraler Geschmackssicherheit zu einem ihr ureigenen Idiom hatte werden lassen, machte ihre Romane, ihre Essays und Reden unverwechselbar. Sie erschuf mit ihr Welten, die durch Fäden und Wurzeln mit der Realität verbunden waren, ihr aber nicht vollständig angehörten. Denn sie betrachtete die Realität als ein Gefängnis, dessen Gitterstäbe aufgebogen werden mussten, um den Blick über die Grenze allgemein menschlicher Erfahrung hinaus zu eröffnen. Und darin sah sie die eigentliche Aufgabe und Berechtigung der Kunst. Diese Überzeugung war aber nicht mit der Attitude der Prophetin verbunden – was sie mit inspiriertem Blick in der allen anderen unsichtbaren Sphäre sah, war vor allem sehr komisch in einem geradezu unschuldigen, niemals spöttischen oder zynischen Sinne. Ihre Sympathien gehörten Menschen am Rande der Verrücktheit, denen sie Einsichten zutraute, die den vermeintlich Gesunden verschlossen bleiben. Ihnen gab sie in ihren Erzählwerken eine Stimme, die wie aus einer anderen Welt drang. Sie hatte spät angefangen zu schreiben, war schon vierzig, als sie nach einem einschneidenden geistigen Erlebnis ihren ersten Roman, Pong, schrieb, einen großen Monolog, der sofort die Kritik und die Leser auf sie aufmerksam machte. Davor war sie aber schon Graphikerin, Schriftkünstlerin und Zeichnerin, deren Werk, wenn es breitere Kreise erst kennengelernt haben, einen ebenso hohen Rang wie ihre Prosa einnehmen könnte. Es war auch in diesen Arbeiten, als sei sie tatsächlich im Jenseits gewesen, im Hades und im Purgatorium, und könne wie eine Reisende darüber berichten. Als Rednerin und auf Diskussionspodien offenbarte sie eine andere Seite ihrer Möglichkeiten: kraftvoll und provozierend, fähig zum Zorn bis zur Verachtung, eine gefürchtete Polemikerin, die sich, sowie sie das Podium verlassen hatte, wieder in die sanfte und höfliche Menschenfreundin zurückverwandelte, als die man sie in ihrer Umgebung erlebte. Mit beträchtlichem Mut bekannte sie sich vor einer agnostischen Öffentlichkeit zum Christentum. Ihre pietistische Erziehung erlaubte ihr, diesem Bekenntnis eine eigene, nicht völlig dogmatische Prägung zu geben, wobei sie grundsätzlich mit Orthodoxie und Dogma sympathisierte, weil sie ihr klüger vorkamen als eine moderne Theologie, die mit dem Übernatürlichen abgeschlossen hat. Es war ihr nicht bestimmt, ein hohes Alter zu erreichen. Sie starb nach schwerstem Leiden, währenddessen sie vielen Menschen noch mit Haltung und Heiterkeit begegnet ist.
Martin Mosebach