Der wohl profilierteste Komponist der DDR, Siegfried Matthus, wurde 1934 im ostpreußischen Dorf Mallenuppen geboren und starb am 27. August 2021 in Stolzenhagen bei Berlin. Matthus war seit 1978 korrespondierendes und ab 1995 ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Von 1952 bis 1958 studierte Matthus an der Deutschen Hochschule für Musik in (Ost)-Berlin Komposition und war von 1958 bis 1960 Meisterschüler von Hanns Eisler. Ab 1960 lebte er als freischaffender Komponist, seit 1966 wirkte er als Komponist und Dramaturg an der Komischen Oper Berlin unter und mit den Intendanten Walter Felsenstein, Götz Friedrich, Harry Kupfer, Rolf Reutter und Ruth Berghaus. 1972 übernahm er eine Meisterklasse an der Akademie der Künste der DDR. 1985 wurde er dort zum Professor ernannt.
Sein kompositorisches Werk umfasst mit über 600 Arbeiten eine große Vielfalt von Genres und Stilen, von der Chormusik, Kammermusik über Film- und Theatermusik und Opern bis zur großen Orchestermusik. Er war im Musikleben der DDR eine anerkannte Größe, wusste aber seine künstlerische Freiheit zu behaupten. In der von ihm ins Leben gerufenen Veranstaltungsreihe „Kammermusik im Gespräch“ mit internationalen zeitgenössischen Komponisten ging er – nach Berichten von Zeitzeugen – einigen Musikfunktionären mit diesen offenen Gesprächen mitunter gehörig auf die Nerven. Matthus wurde mit dieser Reihe zwischen 1966 und 1988 zum Pionier der Modernen Musik in der DDR. Siegfried Matthus prägte das Musiktheater in der DDR und konnte schon seit den siebziger Jahren internationale Anerkennung und Aufmerksamkeit erwerben. Seine Oper Judith stand als Uraufführung auf dem Spielplan, als im Jahr 1985 in Dresden die Semperoper wiedereröffnet wurde. Und 1991, kurz nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, gründete Matthus die „Kammeroper Schloss Rheinsberg“, deren künstlerischer Leiter er bis 2014 war. In Rheinsberg hatte Siegfried Matthus seine ersten musikalischen Schritte gemacht. Hier hatte er sein Abitur abgelegt und an der Oberschule die Leitung des Schulchors übernommen, für den auch seine ersten Kompositionen entstanden sind. Mit der Etablierung dieses Opernfestivals schloss sich für Matthus ein Kreis. Der Komponist blieb auch nach der „Wende“ anerkannt. Bis 2004 war Matthus Mitglied des Aufsichtsrates der GEMA. Er wurde zum Ehrenbürger der Stadt Rheinsberg ernannt und erhielt im Jahre 2000 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. 2015 folgte das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
Kompositionsaufträge und Aufführungen, unter anderem von den Berliner Philharmonikern, den Münchner Philharmonikern 1986, der Dresdner Staatskapelle, dem Gewandhausorchester Leipzig oder den New Yorker Philharmonikern führten den Komponisten schon zu DDR-Zeiten häufig ins „westliche Ausland“. Wichtig war beispielsweise die Aufführung seines Orchesterkonzertes Responso 1979 vor der UNO in New York mit weltweiter Übertragung. Seine Opern fanden Aufführungen unter anderem an der Komischen Oper Berlin, der Semperoper Dresden, der Staatsoper „Unter den Linden“ und der Deutschen Oper Berlin sowie auch bei den Festspielen Santa Fe. Seine letzte Oper Effi Briest kam 2019 am Staatstheater Cottbus heraus.
Der Musikstil von Siegfried Matthus wurde von Rezensenten und Zeitgenossen gerne unter dem Schlagwort „gemäßigte Moderne“ rubriziert, was wenig über die Differenziertheit und Wandlungsfähigkeit, ja die eindrückliche Sprachfähigkeit seiner Musik aussagt. Karl Schumann sprach 1978 in seiner Empfehlung für Siegfried Matthus zur Wahl als korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste von „Momenten der Überraschung, des unvorhersehbar Originellen und Neuen“, die einer „kompositorischen Konsolidierung“ die Waage hielten.
Seine expressiven Werke, mit denen er ein zahlreiches Publikum fand, sind einer freien Atonalität verpflichtet. Unter seinen Bühnenwerken sind sicherlich Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke mit ihrer Uraufführung 1984 an der Semperoper in der Regie von Ruth Berghaus hervorzuheben wie 1990/91 Desdemona und ihre Schwestern nach Christine Brückner mit der Uraufführung an der Komischen Oper Berlin unter der Regie von Götz Friedrich. Seine Orchesterwerke erfuhren zahlreiche Aufführungen und hatten prominente Auftraggeber und Uraufführungsorte, wie beispielsweise sein Divertimento für Orchester bei den Salzburger Festspielen 1985, im Jahr darauf die Uraufführung von Die Windsbraut durch die Münchner Philharmoniker in München. Obwohl das Hauptwerk dieser zeittypischen Komponistenpersönlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und – aus eingeschränkter westlicher Sicht – in der „zweiten Hälfte“ Deutschlands entstanden ist, so arbeitete Matthus auch im 21. Jahrhundert unter gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland unermüdlich weiter und hinterlässt ein umfangreiches Œuvre, dessen Originalität wie Zeitgebundenheit in ihrer Tiefe in Gesamtdeutschland noch zu erschließen sind.
Nikolaus Brass