Stefan Moses war ein Beobachter. Ein »teilnehmender Beobachter«. Ihm gelang es, eine geradezu intime, freundschaftliche Atmosphäre zu schaffen mit den Menschen, die er fotografierte. Kaum jemand konnte sich seinem Charme, seiner respektvollen Neugier, seinem ebenso warmen wie wachen Blick entziehen. Stefan Moses war ein Sammler. Er sammelte Augenblicke, Gesten, Ansichten, Haltungen, im Moment geboren, ebenso rasch wieder vergangen. Er, ein manchmal Ungeduldiger, zeigte viel Geduld mit jenen, die er fotografierte. Denn Fotografieren war für ihn ein Prozess, war ein Dialog, den er führte und er war denen, die vor seiner Kamera standen oder saßen, sich auch inszenierten ein temperamentvoller, ideenreicher, ewig wissenswollender Partner. So sah und erkannte er die Momente, in denen die Menschen ihm Wesentliches von sich öffneten. Die hielt er fest, bildete sie ab. Nicht gegen, sondern stets mit den Menschen, die sich in seinen Fotos erkannten. Stefan Moses sah sich als Bewahrer:
Erinnerung braucht Orientierungshilfen: die alten und die neuen Bilder. Was mich wirklich interessiert, ist immer der Mensch. Was tut er, was will er, wohin geht er? Der Mensch ist der Mittelpunkt der Analyse. … So ist das Fotografieren permanente Erinnerungsarbeit. Meine ist, Menschen festzuhalten, bevor sie verloren gehen.
Flüchtige Tagesereignisse, stellte er einmal fest, seien »nie sein Ding« gewesen. Er gab nichts auf den Zeitgeist, dem auch der formale Stil seiner Bilder nicht folgte. Stattdessen ging es ihm um das Leben der Menschen. Vor allem in seinem Land, das ihn weit mehr interessierte als ferne Kulturen. Er reiste zwar auch, aber schuf vor allem Werkgruppen, die, wie er sagte, »alle um Deutschland kreisen«. So versammelte er Menschen zu Bildern unserer Gesellschaft. Bat sie als Zeitzeugen seit Anfang der 1960er Jahre in seinem Projekt »Die großen Alten« in den Wald, lud sie ein, sich selbst im Spiegel zu fotografieren, oder bot ihnen in »Künstler machen Masken« ein Podium für ein Zwiegespräch mit einem zweiten Gesicht. Damit schuf er ein Abbild der deutschsprachigen Kultur- und Geisteselite. Für den Menschenfreund Stefan Moses freilich war dies nur ein Aspekt unserer Gesellschaft. Deshalb reiste er durch sein Land, die Bundesrepublik, um seit den 1960er Jahren Menschen verschiedenster Berufe auf sein hellgraues Filztuch zu bitten, das er ihnen mitten im gewohnten Alltag ausbreitete. Eine Bühne, auf der sie sich geben oder stellen oder miteinander gesellen durften: Individuelle Menschen in ihrer Würde und der Fülle ihrer Persönlichkeit und gleichzeitig abstrakte Repräsentanten unterschiedlicher beruflicher und damit gesellschaftlicher Gruppen. Unmittelbar nach »der Wende«, 1990, hielt er in der gerade noch existierenden DDR die Deutschen dort fest und schuf neben berührenden Portraits das Panorama einer Gesellschaft, die es wenig später so nicht mehr gab.
Deutschland und Stefan Moses. Er hätte allen Grund gehabt, sich abzuwenden: Geboren 1928 im schlesischen Liegnitz, mußte er 1943 das Gymnasium in Breslau abbrechen, weil die Nazis ihm als »Halbjuden« den Schulbesuch verboten. Auch die anschließende Lehre bei der bekannten Kinderfotografin Grete Bodlée konnte er nicht fortsetzen, weil man ihn in Zwangsarbeitslager sperrte. Anfang 1945, noch nicht 17 Jahre alt, gelang ihm die Flucht. In Erfurt traf er Grete Bodlée wieder, beendete die Lehre und arbeitete dann in Weimar als Bühnenfotograf. 1950 zog Stefan Moses nach München Schwabing, in seine neue und hochgeschätzte Heimat, und begann mit Bildreportagen für die Neue Zeitung, Revue, das Schönste, Magnum und von 1960 an auch für den Stern. Aber während seine Kollegen Bilder aus fernen Ländern lieferten, interessierte ihn das Naheliegende: »Deutschland ist genauso exotisch wie Afghanistan oder Paraguay, überall unerforschte Gebiete!« Er hat sie und uns erforscht.
Hans Magnus Enzensberger schrieb in seinen »kleinen Gruß an S.M.«: »… und er willigte ein, bei uns zu bleiben. Dann hat unser Mann Moses sich ein Bildnis von uns gemacht, damit wir endlich einmal wüßten, woran wir sind.«
Wilhelm Warning