Ansprache beim Trauergottesdienst am 19.11.2021 in der Kreuzkirche Dresden
„Einem Menschen begegnen, heißt von einem Rätsel wachgehalten werden“ – diesen Satz las ich bei Emmanuel Lévinas in Wochen, da für Udo Zimmermann nichts mehr zu hoffen war. Nachdem er so still weggegangen ist, wie man es wünschen musste und zugleich überlegt, was man bei ihm versäumt habe, überfällt mich die Frage, ob und wie sehr ich ihm unter dem Anspruch von Lévinas begegnet sei, indes auch: wie viel Begegnung Udo zugelassen habe. Zu viel betuliches „De mortuis nihil nisi bene“ schiebt Verstorbene aus unserem nie ausschließlich trauernden Leben unnötig weit hinaus.
Mit seiner Oper Levins Mühle habe ich bei einem norddeutschen, nicht avantgardistisch gelaunten Publikum großen Erfolg gehabt, Schuhu und die fliegende Prinzessin habe ich fast und Die wundersame Schustersfrau ganz uraufgeführt. Bei der Letzteren wohnten wir in Schwetzingen zwei Wochen lang im selben Hotel. „Verduzt“ haben wir uns erst später; vor zehn Jahren überraschte er mich am Telefon mit der Auskunft, er würde auf die Bewerbung um eine zweite Amtszeit als Präsident der Sächsischen Akademie der Künste verzichten, wenn ich bereit wäre, die Nachfolge anzutreten. Drei Jahre zuvor waren, wie ich, viele verwundert, dass er sich nach der für die Akademie segensreichen Präsidentschaft seines Bruders um das Amt bewarb.
Jetzt, da er gegangen ist, drängt sich die Frage auf, ob das grausam lange Sterben auch Antwort der Natur darauf gewesen sei, dass Udo sich ständig überforderte. War es nicht genug, dass er der in seiner Generation erfolgreichste, meistaufgeführte Komponist der DDR war? Anders als im Hinblick auf jeweilige Vorhaben hochgespannt habe ich ihn kaum je erlebt. Das betraf sein Dirigieren ebenso wie harsche Kritik, wenn ihm bei Aufführungen etwas missfiel; es betraf indes auch kreative Zündungen: unvergesslich ein Gespräch mit ihm, Harry Kupfer und dem vor Ideen sprudelnden Eberhard Schmidt über die noch ausstehende Musik zu der durch einen Wunderwald herbeifliegenden Schuhu-Prinzessin, bei dem Schmidt vage Vorstellungen einer lyrisch ausladenden, in gestuften Echos Raumtiefe suggerierenden Melodie entwickelte, Udo übergenau zuhörte, die Sache nachfragend konkretisierte und Tage später mit einer Lösung aufwartete, die sich als eine der schönsten Szenen der Oper erweisen sollte.
Dieselbe unwiderstehliche Konzentration ermöglichte auch jenseits des eigenen Komponierens fulminante Erfolge. Wer außer ihm hätte in zehn Leipziger Intendanzjahren u. a. Stockhausen, Schnebel und Herchet, insgesamt neun Uraufführungen durchsetzen, als Leiter der Münchner Musica Viva (1997 bis 2011) über 180 anspruchsvolle neue Werke zur Aufführung befördern können? Wer, da 95 Prozent der verschüchterten DDR-Bevölkerung sich mindestens bis zur Rente eingekastelt sahen, hätte für sich westliche Aufträge, Aufführungen, prominente Ämter durchboxen, vor der Wende mit Ursula Ragwitz, Leiterin der Abteilung Kultur im Zentralkomitee der SED, sich gut stellen und nach der Wende Helmut Kohl nach Leipzig holen können? Er vermochte es, dank jenes Durchsetzungsvermögens, welches auch erklären hilft, dass er sich, während erste Dunkelheiten über ihn herfielen, in Dresdener und Münchener Ämtern immer noch als richtigen Mann am richtigen Ort sah. „Mir gefällt's zu konversieren, mit Gescheiten, mit Tyrannen“ – fällt mir dazu ein; die hierfür nötige Unverfrorenheit darf man bewundern; Udo war gern prominent und wusste, weshalb und wofür.
Das betrifft die lange Kette umfangreicher, oft zeitlich übereinanderliegender Verantwortungen, deren engagierte Wahrnehmung am ehesten erklärt, dass er es fertigbrachte, 12 Jahre lang fast nicht zu komponieren. Viele Aufführungen im Rahmen des 1974 gegründeten Studios Neue Musik – 1986 überführt ins „Dresdener Zentrum für zeitgenössische Musik“, 2004 ins „Europäische Zentrum der Künste Hellerau“ – waren seinerzeit Wagnisse. Hier in Dresden und in München hat er etlichen schlecht gelittenen oder bis dato kaum bekannten Komponisten in die Öffentlichkeit geholfen, in Bonn eine Werkstatt für zeitgenössisches Musiktheater betrieben – insgesamt ein in Form und Umfang fulminanter Einsatz für Kollegen, unübersehbar für Öffentlichkeit und Politik auch, weil Udo Präsident mehrerer Akademien und des Sächsischen Kulturrates war.
Wie sehr mögen zu all dem Sicherheiten beigetragen haben, die er, als Knabe Kruzianer mit auffallend schöner Stimme, der Sozialisation in dresdnerischen Musiktraditionen verdankte – ihrerseits eine Mixtur hoher Ansprüche mit so provinziellem wie residenzstädtischem Selbstbewusstsein.
Kein Wunder, dass der Multifunktionär Verdächtigungen auf sich zog – dadurch bestärkt, dass „Partei und Regierung“ mit seiner Musik mehr anfangen konnten als mit der von Bredemeyer, Dittrich, Goldmann, Schenker etc.; bei denen fühlte man die subversive Orientierung unschwer heraus. Mit den im Umkreis von Paul Dessau, später Heiner Müller halbwegs beschirmten Berliner Kollegen stand Udo nicht gut, weniger selbstverschuldet als situationsbedingt galt er als gar zu geschickter Taktiker – situationsbedingt, weil das von Misstrauen vergiftete Klima Verdachte begünstigte, einer habe die in totalitären Konstellationen oberste Regel verletzt: bei privaten Konflikten keinesfalls gemeinsame Sache mit den Herrschenden zu machen. Nach 1989 wollte er in der Ostberliner Akademie einen Schlussstrich unter alle Zweideutigkeiten mit der Forderung ziehen, die Mitglieder mögen geschlossen austreten.
Neben dieser Einräumung ist eine zweite fällig: Udos Begabung lag mehr bei szenisch bzw. literarisch veranlasster als bei „absoluter“ Musik – ein vorab ästhetischer, auch durch sängerische Erfahrungen geprägter Sachverhalt, der meist politisch verstanden wurde. Wenngleich die ideologischen Gardinenpredigten in puncto „Verständlichkeit“, „Volkstümlichkeit“ usw., die Tiraden gegen sogenannten „Formalismus“ uns zum Halse heraushingen – ein Gran Berechtigung gab es, insofern das Moment Mit-Teilung, Ansprache, Konnex mit dem Leben „draußen“ dazugehörte. Gelungene Beweisfälle für Udos stets „angewandte“ Musik waren die Opern, erkennbar an einem sicheren Griff nach bühnentauglichen Sujets wie auch an seinem kompositorischen Blick auf jene, in je eigenem Stil verfasst, aufgespannt zwischen vollstimmigen, in der Machart ähnlichen, mitunter zwölftonnahen Sätzen: in Levins Mühle die Szene im Gasthaus; im Schuhu die von uns vor 45 Jahren „Kerzenensemble“ getaufte Passage; in der Schustersfrau das Gewäsch der Nachbarinnen – und nur im jeweiligen Zusammenhang vorstellbarer Musik – in Levins Mühle etwa das „Lied vom polnischen Aufstand“; im Schuhu der Flug der Prinzessin, in der Schustersfrau deren schroffe Gegenwehr gegen zudringliche Männer und der einstimmige „cante jondo“.
„Absolute“ Musik, auch vergleichsweise populäre, hat Udo weniger interessiert. Das erfuhr ich, als er um Rat fragte nach einer Bitte der Dresdner Philharmonie um Signale, welche motivisch auf Brahms-Sinfonien bezogen wären. Dass er diese kaum kannte, begriff ich erst später als Selbstschutz einer Kreativität, die durch den Ansturm naheliegender, bereits vorliegender Lösungen irritiert werden könnte. In den Partituren schlägt sich's in der Unterscheidung pedantisch gearbeiteter Passagen von solchen nieder, in denen untrüglich sichere Assoziationen ihn auf vorgefertigte Modelle verwiesen.
Dass aus dem Gantenbein-Projekt nichts mehr wurde, ist nun doppelt symbolisch – als riskanter Griff nach einem Sujet, das viel weniger bühnentauglich erscheint als vorangegangene; und als Stoff, der hinter die Kategorie „Ich“, die Art und Weise, auf die wir uns mit uns selbst identisch meinen, Fragezeichen setzt.
Auch das lässt sich als Ermutigung verstehen, vom Gedenken an Udo Zimmermann, Lévinas gemäß, als „Rätsel wachgehalten“ zu bleiben, die Reise, auf die er gegangen ist, mit der hilflosen, jeden Gestorbenen geleitenden Liebe als Suche nach dem unerreichbaren Punkt zu verstehen, in dem die Parallelen der Widersprüche sich schneiden. Diese nicht als erledigt zu betrachten, mag am ehesten geeignet sein, ihn zu ehren, ihn festzuhalten, in seiner Musik sprechen zu hören.
Peter Gülke