Im Jahre 1976 geriet ein Buch in die Hände meines Vaters mit dem Titel Brieffreundschaften, dessen heiter umständlicher Erzählstil ihn ungemein erfreute: Er staunte wie diese Satire den Eisernen Vorhang mit Gelächter einen Spalt breit hatte öffnen können und beschloß, die Literaturabteilung der Akademie für den Moskauer Autor Wladimir Woinowitsch aus einem damals sehr fernen Land zu gewinnen, knüpfte also den schwierigen Kontakt nach Rußland. Die Hauptperson des schmalen Werkes, Unteroffizier Iwan Altynnik, war Kammerbulle im Jagdfliegerregiment des Dorfes Kirsawod, Spezialist für Brieffreundschaften und dank seiner elegant verschnörkelten Schriftzeichen erfolgreich bei Frauen – brieflich versteht sich. Er schrieb leicht und rasch, ein Wort zog das andere nach sich, also sandte er einen flammenden Gruß aus reinem Herzen an eine Ludmila.
»Ihr Foto, Ludmila, und ihre Persönlichkeit haben mir hervorragend gefallen.« Kam beim Zapfenstreich das Gespräch auf Frauen, trat Altynnik als Kenner der Materie auf: wo und wie bei denen alles eingerichtet sei und was man mit ihnen so anstellen müsse; er hatte aber zu Frauen bisher keine andere Beziehung gehabt als schriftliche. Mit dem Mädchen Galka war er zweimal im Kino gewesen, hatte viermal mit ihr im Haustor gestanden, um über weitläufige Themen zu sprechen, dachte aber dabei ständig drüber nach wie er sich ihr nähern könnte und holte tief Luft für ein »Erlaubst-du-daß-ich-dich-küsse?« Galka wich in die Ecke aus und fragte erschrocken, »Aber wozu denn das!« Bald danach heiratete sie einen ehemaligen Matrosen und seine Mutter schrieb, deine Galka hat ein Töchterchen bekommen.
Während eines Befehls ins Nachbardorf Kirsawod sah er am Bahnsteig eine beschneite Figur stehen. »Sie« erriet Altynnik und erkannte, daß man ihn böse angeführt hatte: Denn Ihr Foto das er ins Album gesteckt hatte, war mindestens 10 Jahre alt und er schwankte zwischen bleiben oder auf den bereits abfahrenden Zug springen. Beiläufig fragte er die Figur, »wann geht der nächste Zug, und was machen wir nun?« »Vielleicht wollen Sie was essen?« »Meinetwegen essen wir was,« und im Handumdrehn standen in Ludmilas Küche eine Halbliterflasche Wodka, Bratkartoffeln und Pilzpiroggen. »Auf die Bekanntschaft«, sagte Altynnik, hob sein Glas,« und auch Ludmila tat ihm wohlerzogen Bescheid: Er hatte gehofft sich rasch einen Rausch anzutrinken; doch die Flasche war leer, ohne daß er die geringste Wirkung spürte. Nur In der Brust wurde ihm wärmer. Er fühlte sich leicht, aß mit Vergnügen, blickte immer wohlwollender auf Ludmila, die nicht mehr ganz so alt schien und überhaupt ziemlich anziehend. Daß sie nicht mehr in der allerersten Jugendblüte stand wertete er als positiven Faktor, denn neben ihm saß nun eine die wußte, wozu Leute sich küssen und was sie anschließend tun. Ihre Lippen verhießen allerhand. Ungeniert mampfte er Kartoffeln und stopfte sich mit Pilzpiroggen voll. »Bei uns in der Luftwaffe gibt´s Schlangenfraß«, darum schätze ich Pilze so. Im Krieg haben uns die Pilze das Leben gerettet. Nimm den Korb, geh in den Wald und basta. Mit Basta nahm nun alles seinen Lauf – in Ludmilas Bett und überhaupt. Sie führte ihn baldmöglichst auf ein bestimmtes Amt, wonach sie eines Knäbleins genas. Daraufhin mußte er sich bei seinem Vorgesetzten rechtfertigen, plötzlich ohne Genehmigung verheiratet zu sein, was sein Leben unerwartet verkomplizierte.
Soweit die Brieffreundschaften, auf die 1979 die Denkwürdigen Abenteuer des Soldaten Tschonkin folgten, ein unerhörter Bucherfolg, der die Zuwahl des Autors in die Akademie meinen Vater voll bestätigte. Tschonkin wurde ein Lacherfolg, wie ihn nur wenige Satiriker erleben. Aber welcher Gefahr sich sein Autor damit ausgesetzt hatte, spürte die Akademie unerwartet rasch, denn bereits am 21. Dezember 1980 erreichte uns deren Anruf mit der bangen Frage, ob wir in unserer freigewordenen Einliegerwohnung das soeben in München eingetroffene Ehepaar Woinowitsch mit Tochter Olga aufnehmen könnten, denn der Autor sei aus Rußland ausgewiesen worden wegen seines politischen Mutes im Protestbrief gegen die Verbannung Sacharows und seiner Schilderung des Lebens in der Sowjetunion, wie es dort ist ohne im Sinne der Ideologie überhöht zu werden, denn die dargestellte Diskrepanz zwischen Realität, offiziellen Postulaten und Propaganda war dank des Humors unseres neuen Nachbars so unwiderstehlich, daß das Moskauer Regime in höchste Alarmbereitschaft geriet. Frau Irina meinte zwar zuversichtlich, »nuja, das Hotel Splendid ist schon in Ordnung« ohne zu ahnen wie begrenzt die Finanzkraft einer westlichen Akademie ist, die sich außerstande sah, eine Unterkunft für drei Personen auf unbestimmte Zeit zu zahlen. Da wir soeben unseren Weihnachtsstollen angeschnitten hatten, freuten wir uns, den 3 heimatlos Gewordenen davon die ersten Scheiben anzubieten. Die geräumige Einliegerwohnung wurde rasch beheizt, meine Eltern halfen, sie behaglich einzurichten und unsere neuen Nachbarn wurden uns so sympathisch, daß rasch eine deutschrussische Freundschaft aufblühte. Irina besuchte sogleich die Deutschklasse der Volkshochschule, Wolodja begnügte sich mit bruchstückhaften Englischkenntnissen, und Olga würde sowieso schon nach wenigen Wochen fließend deutsch sprechen. Den abendlichen Wodkasitzungen schloß sich mein Mann freudig an, und ich beobachtete, wie Wolodja beim spätabendlichen Aufbruch Mühe hatte, vor dem Niederschreiben von Dankesworten ins Gästebuch die Kappe des Kugelschreibers über den Stift zu schieben. Das Gästebuch füllte sich mit berühmten Namen, die nebenan aus- und eingingen wie der Portraitmaler Boris Birger, der Ballettkritiker Poel Karp, der Regisseur Peter Todorowski, der Liedermacher Bulat Okudschawa, der Filmemacher Otar Josseliani, das Olympiasiegerpaar im Eiskunstlauf Oleg Protopopow mit Ludmila Beloussowa, die Ballerina Maja Plisetskaja. Die Lyrikerin Bella Achmadulina und viele andere, wie der Schauspieler Erik Zorin im Theaterstück Scheinehe.
Als ich mich näher mit dem »Soldaten Tschonkin« befaßte bekam ich Probleme, alleine weiterzulesen. Denn was darin etwa über die sowjetische Landwirtschaft geschrieben steht, hat viel mit Wodka zu tun und ist so urkomisch, daß ich ständig lachen mußte und jemanden brauchte, mit dem ich die sich überstürzenden Pointen teilen konnte. Denn allein kann man doch nicht laut lachen. Aber da wo die Rayonszeitung vom unerhörten Erfolg bei der Kartoffelernte im Kolchos »rote Ähre« berichtete und den Kartoffelbergen, die sich am Feldrand türmten, gab ich mich lachend geschlagen. Es war davon die Rede, was auf Grund der vollen Ausnutzung der menschlichen Reserven erzielt wurde und daß der Vorsitzende Golubew Genosse Stalin persönlich informieren wollte.
Er lud Tschonkin zu sich ein, stellte 2 Flaschen Schnaps vor ihn auf den Tisch, und als beide in der Dämmerung das Kolchosbüro verließen, konnten sie sich nur mit Mühe auf den Beinen halten. Der Vorsitzende versuchte in der Dunkelheit das Vorhängeschloß zu finden, und urinierte, ohne zuvor die Treppe hinabzusteigen. Als sich aber unter seinem Fuß unbemerkt eine Stufe einstellte. stürzte er polternd die Treppe hinunter. Er wartete daß Tschonkin sich wieder erhob, aber der erhob sich nicht. »Iwan«, sagte Golubew in die Dunkelheit hinein. Keine Antwort. Um nicht auch selber abzustürzen legte sich der Vorsitzende auf den Bauch und kroch mit den Füßen voran die Treppe hinab. Als er auf der Erde angekommen war, robbte er auf allen Vieren herum und tastete das taufeuchte Gras ab. Endlich stieß er auf Tschonkin, der auf dem Rücken lag, die Arme weit ausgebreitet und im Schlaf friedlich vor sich hinsäuselte. Golubew legte sich quer über ihn. »Iwan« rief er. »Was ist« fragte Tschonkin. »Lebst du noch«?, erkundigte sich der Vorsitzende. »Weiß ich nicht«, antwortete Tschonkin, was liegt denn auf mir drauf? Das bin ich sagte Golubew nach kurzem Nachdenken. »Und wer bist du?«
Wer ich bin? Der Vorsitzende wollte beleidigt sein, aber dann strengte er sein Gedächtnis an und kam zu dem Schluß, daß er selber nicht genau wußte, wer er war. Immerhin entsann er sich mit einiger Mühe: ich bin der Golubew, der Iwan Timofejewitsch. Und was liegt auf mir drauf? Ich sag dir doch daß ich auf dir draufliege. In Golubew stieg der Ärger auf. Kannst du auch wieder runter erkundigte sich Tschonkin. Wieder runter? Golubew versuchte sich auf allen Vieren zu erheben, aber seine Arme knickten ein und er stürzte wieder auf Tschonkin nieder. Warte mal sagte der Vorsitzende, ich werde mich gleich in die Höhe heben. Und du stemm dich mit den Beinen gegen mich, nicht gegen meine Fresse und was liegt denn auf mir drauf? Das bin ich sagte Golubew nach kurzem Nachdenken Und wer bist du? Wer ich bin? Der Vorsitzende wollte beleidigt sein. Aber dann strengte er sein Gedächtnis an und kam zu dem Schluß, daß er im Grunde selber nicht genau wußte wer er war, Immerhin entsann er sich mit einiger Mühe »ich bin der der Golubew, der Iwan Timofejewitsch«, »und was liegt auf mir drauf«, »ich sag dir doch daß ich auf dir draufliege«. In Golubew stieg Ärger auf. »Und kannst du auch wieder runter?« erkundigte sich Tschonkin. »Wieder runter?« Golubew versuchte sich auf alle Viere zu erheben, aber seine Arme knickten ein und er stürzte auf Tschonkin nieder. »Warte mal« sagte der Vorsitzende, »ich werd mich gleich in die Höhe heben, und du stemm dich mit den Beinen gegen mich, nicht gegen meine Fresse du Armleuchter sondern gegen meine Brust. So ist es richtig.« Endlich gelang es Tschonkin den Kolchosvorsitzenden abzuwälzen. Jetzt lagen sie nebeneinander im Gras. »Iwan«, meldete sich Golubew nach längerem Schweigen. »Hier bin ich«. »Scheiß drauf, wollen wir gehen?« »Gehen wir«. Tschonkin richtete sich auf, konnten sich aber nur kurz auf den Beinen halten. Dann fiel er wieder hin. »Geh doch mal so wie ich gehe« sagte Golubew und erhob sich auf alle Viere. Tschonkin nahm die gleiche Haltung ein. Die beiden Freunde setzten sich mit unbekanntem Ziel in Bewegung. »Geht es?« »Ja, sogar besser. Jean Jacque Rousseau hat gesagt, der Mensch soll auf allen Vieren zurück zur Natur gehen.« »Wer ist denn dieser Schanschack« fragte Tschonkin, der den seltsamen Namen nur mit Mühe aussprechen konnte!, »wohin gehen wir?« »Ich glaub ins Kolchosbüro.« »Und wo ist das Büro?« »Weiß der Teufel. Warte, ich glaub wir müssen die Richtung feststellen«. Der Vorsitzende legte sich auf den Rücken und begann den Polarstern am Himmel zu suchen. »Wozu brauchst du den«? Fragte Tschonkin. »Stör mich jetzt nicht« sagte Timofejewitsch. »Erst finden wir den Großen Bären. Von dem bis zum Polarstern sind es nur zwei Schritt, und wo der Polarstern ist da ist Norden.« Liegt denn das Kolchosbüro im Norden«, fragte Tschonkin.?« Stör mich nicht«. Tschonkin kroch weiter und stieß auf eine Mauer, »das muß das Kolchosbüro sein« rief er. »Siehst du, und du fragst noch wozu der Polarstern gut ist. Such nur, irgendwo muß hier das Schloß sein«. Sie krochen weiter, stießen zusammen, bis Tschonkin sagte, »sag mal, Golubew, das Schloß ist doch dort, wo die Tür ist, und die Tür dort, wo die Treppe ist«. Das Vorhängeschloß entwand sich wie ein lebendes Wesen seinen Händen und traf den Vorsitzenden schmerzhaft ans Knie, sodaß ein Nüchterner längst ohne Bein gewesen wäre; doch der Betrunkene wird wie man weiß ein wenig von Gott beschützt.
Woinowitschs Humor war wie man sieht, nie bösartig doch bissig gegen die Nomenklatura.
1932 In Duschanbe geboren, ging er aus der Armee nach Moskau, arbeitete tagsüber auf dem Bau, schrieb nachts, studierte am pädagogischen Institut, bekam einen Job beim Radio und durch Zufall den Auftrag zur Kosmonautenhymne die ihn berühmt machte. Er blieb immer ehrlich, trat für Menschenrechte ein, kritisierte offen das Regime, wurde vom Schriftstellerverband ausgeschlossen, nach 2 Mordversuchen ausgebürgert und kam im Dezember 1980 auf Einladung der Akademie nach München. Er zeichnete sich weiterhin auch hier durch große Wahrheitsliebe aus, galt als das »Gewissen Rußlands«, schrieb meisterhafte Romane wie Moskau 2042, der als Prophezeihung fürs heutige Rußland unter Putin gilt, kritisierte Putin für den Ukrainekrieg und traute ihm nie über den Weg, beachtete daher auch nicht dessen Glückwünsche bei seinen runden Geburtstagen. 1988 bekam er von Gorbatschow seine Moskauer Wohnung und die Staatsbürgerschaft zurück, konnte also auch wieder nach Moskau, wo er sehr bekannt ist als letzter lebender Klassiker.1982 bekam er ein Stipendium als Gastprofessor in Princeton beim Smithonian-Institute, wo er sich eine Drehbank besorgte, um auf dem Balkon Matrioschkas zu basteln, die aber innen nicht so hohl waren wie sie sein sollten.
Irina konnte nie verschmerzen, daß der Tod ihrer Eltern vom KGB mitverursacht war. Denn die Mutter starb kurz vor ihrem Aufbruch nach München in der Klinik an Nierensteinen, der Vater auf dem Weg zu ihr am Herzinfarkt, weil das Telefon vom KGB abgeschaltet war. Irina starb in Großhadern an Krebs, Wolodja, von Olga schwer betrauert im Juli 2018 am Herzinfarkt.
Barbara von Wulffen