Wolfgang Rihm kam am 13. März 1952 in Karlsruhe zur Welt und starb dort am 27. Juli 2024.
Am Sonntag, den 29. Juli 2024 hatte ich mir notiert: Gestern erreicht mich die Nachricht von Wolfgangs Tod. Es hatte lange geschienen, als würde dieser Krebs einfach mit ihm leben, ihn irgendwie leben lassen. Aber nein. Auch dieses Leben wird vernichtet. Erschrocken bin ich, traurig, traurig, dass ich ihn nicht mehr gesprochen habe. Der klassische Fall des: »zu spät«.
Ich wusste, dass seine Krankheit an Zerstörungskraft zugenommen hatte, aber ich wollte nicht mit dem Telefon in seine Welt einbrechen. Unser Kommunikationsmittel waren Briefe, die in den letzten Jahren immer wieder, aber oft unterbrochen durch längeres Schweigen, gewechselt wurden. Ein stockendes Gespräch, in dem jeder ganz bei sich war. In der letzten Zeit keine Briefe mehr. Dass dieses Fehlen das letzte Ganz-bei- sich-Sein ankündigte und vollendete, wusste ich nicht. Ich hatte in der letzten Zeit in mir intensiv am Bild seiner Unverwundbarkeit gearbeitet, unverwüstlich erschien er mir, wie das berühmte Unkraut, auch wenn er darüber klagte, wie die Kraft schwinde. Ich arbeitete am falschen Bild. Alles Floskel- und Formelhafte war ihm nicht unbekannt, aber zuwider. Schweigen erschien als das ihm Angemessene.
Seit 1983 war Wolfgang Rihm Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er hat ein kompositorisches Werk hinterlassen, das in seiner Kompaktheit und inneren Verzweigung, in seinen verschiedenen Landschaften und Erfahrungswelten heute nur in Umrissen erkannt ist. Daneben hat er schreibend und vortragend Blicke auf einen denkerischen Horizont eröffnet, dessen Weite und Tiefe ebenfalls der wirklichen Erkundung harren. Genussvoll hantierte er mit dem Besteck seines scharfen Geistes, den man hier am besten mit Witz übersetzen muss. Das aphoristisch Angerissene, manchmal polemisch Zugespitzte, meist jedoch lebensbejahend schweifend Formulierte war ihm und seinen vielen Lippenlesern eine Lust, ein Vergnügen denkerische Augenblicksarbeit. Beides, kompositorisches Werk und denkerisches Wort, war Exempel dessen, was er als Mensch war: ein Freund des Lebens.
Unsere Beziehung entwickelte sich erst spät zu einer freundschaftlichen. Gekannt, wie man so sagt, gekannt hatten wir uns schon lange. Ich erinnere mich an die Darmstädter Ferienkurse 1978, also an einen Moment vor 46 Jahren, als er im Begriff war, der Wolfgang Rihm zu werden, den die musikalische Öffentlichkeit dann endgültig als »den« Wolfgang Rihm in ihr Heroisierungs-, Bewunderungs- oder Verriss-Theater aufnahm. Am 31. Juli 1978 kam es in der Georg-Büchner-Schule im Rahmen der Internationalen Ferienkurse zur Uraufführung der »Musik für drei Streicher« und der Streit war da. Da war die Begeisterung vieler, gemischt mit dem schwierigen, Rihm schon von Beginn an falsch verstehenden »Endlich!«-Seufzer der Ausdrucksnostalgiker, und es waren die Abwehrgesten der Erschreckten, denen in diesem Musiksturm ihr hermetisches Ordnungsgärtlein der seriellen Übersichtlichkeit zu Schanden zu gehen drohte. Auch sehr kluge Komponisten waren damals erst mal skeptisch und argwöhnten Einbruch des Gestrigen. Und irgendwie war neben der vorschnellen, aber rückwärtsgewandten Begeisterung das zögerliche »Darf man das?« geboren, ein Epiteton, das Rihms Musik ebenfalls lang anhaftete, obwohl es eigentlich immer falsch war. Denn natürlich darf man das, die Frage ist falsch, weil sie von einem Kanon ausgeht, der nur als ein sich immer wieder neu entwickelnder – wenn überhaupt – eine Gültigkeit haben kann. Die Rihm’sche Musik war damals flankiert durch je ein Streichtrio von Hans-Jürgen von Bose und von Wolfgang von Schweinitz. Und das nächste, unpassende Label, das Wolfgang Rihms Rezeption lange beeinträchtigte, war geboren: »Neue Einfachheit«. Er selbst hatte sich solche Begrifflichkeiten nie zu eigen gemacht und damals in einem Vortrag zur Uraufführung von einem ganz anderen Spezifikum seines Komponierens gesprochen, das er mit diesem Werk zur Geltung bringen wollte: »Der Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Methode bestand nicht, wohl aber der Anspruch des Kunstwerks auf allgemeine Verstehbarkeit aus eigener Kraft. […] Die Schulung durch die Systeme der weiteren und nahen Vergangenheit ermöglicht den einmal utopischen Zustand, systemlos komponieren zu können. Utopisch war dieser Zustand in Bezug auf das Phänomen Neue Musik, das nie systemlos denkbar schien. […] Komponieren ist unlernbarer denn je. Die Musik ist schwerelos geworden, hat sich emanzipiert von ihrer Herstellung. Die Darlegung ihrer Herstellung ist nicht mehr sie selbst. Sie wird nicht grundsätzlich erhellt durch die Darlegung ihrer Bestandteile und deren Beziehungen.« Im gleichen Vortrag sprach Wolfgang Rihm auch von der Schwierigkeit und »Unsicherheit im Umgang mit neuaufgefundener Freiheit.« Ich finde in diesem frühen Auftritt und diesem frühen Text, in dieser »Standortdurchsage« schon viel, was den Künstler Wolfgang Rihm lebenslang charakterisierte. Das Betonen des »Wüchsigen«, dass Kunstwerke aus eigenem Recht leben und zu leben verlangen. Dass sie sich des Vorgangs der Hervorbringung bemächtigen, ohne Rücksicht auf das Gefäß, mit dem sie geschöpft werden. Dass Kunst undurchdringlich sein kann wie das Leben. Dass es in der Kunst neben dem »Reinheitsgebot« auch ein »Reichhaltigkeitsgebot« gäbe und vieles mehr.
Wolfgang Rihm wurde im Lauf seines Lebens zur Institution, und er wirkte gern in Institutionen. Manchen kompositorischen Arbeiten meint man dieses anzumerken. Aber das allermeiste, und das ist meist auch das Allerbeste seiner Musik, schert sich nicht darum, sondern spricht unverschlüsselt Ichhaft dicht und dringlich, kennt aber auch eine Rede, die wie abgewandt in Rätseln spricht, überkomplex verwuchert in sich selbst, mit einem Ausdruck des Fatums, als rede hier kein Mensch mehr, sondern die Zeit, die Gewalt, das Verhängnis.
Unsere persönliche Beziehung wuchs langsam. Ich war ihm immer wieder bei Konzerten begegnet, auch bei solchen, die seine Musik präsentierten. Man wusste voneinander. Wirklich kennen lernte ich ihn erst in meinem sechsten Lebensjahrzehnt als ein hochspezifisches, empfindsames, irritierbares Menschen-Gewächs, dessen seelisches Wurzelwerk angewiesen war auf Zufuhr von Lebensstoffen der Zuneigung in der wechselseitigen, lebendig streitbaren Re-Aktion. Dieser Austausch ist vorbei. Für alle. Das ist es, was fehlt: das Unersetzbare der persönlichen Auseinandersetzung, jenseits seiner Bedeutung als öffentliche »Instanz«. Seine Musik, sein Werk: unabsehbar in den Ausmaßen, sowohl nach innen als auch nach außen. Manches für mich gestrüpphaft undurchdringlich, anderes klar und mächtig wie Stein, in dieser Beschaffenheit bestürzend offen, hingegeben. Dann: maskenhaft Erstarrtes. Seine Musik hören heißt für mich Substanz, Anspruch, Wirkung hören. Heißt Reichhaltigkeit, Kraft, Mächtigkeit hören. Ihm begegnen hieß, der Lust und der Gefahr eines Lebens im Können begegnen. Und einem Leben in menschenfreundlicher, anerkennender, gewährender Lebendigkeit, die einen selbst lebendig machte, verlebendigte. Das war das Geschenk seiner Gegenwart: Verlebendigung.
Nikolaus Brass