Wolfgang Sawallisch, der am 22. Februar 2013 in seinem geliebten Haus in Grassau verstorben ist, gehörte der Bayerischen Akademie der Schönen Künste seit 1978 als ordentliches Mitglied an. Wie wichtig ihm diese Mitgliedschaft war, zeigt, daß er sich bis zu seinem Tode für sein – durch Alter und Gesundheit bedingtes – Fernbleiben von den Sitzungen der Musikabteilung fast jedesmal förmlich entschuldigte. An Spendenaktionen der Akademie oder an Petitionen der Akademie, etwa für den Verblieb des von ihm hochgeschätzten Christian Thielemann in München, hat er sich gern beteiligt, und zu seinem 85. Geburtstag durften wir ihn in einem memorablen Konzert mit Christian Gerhaher und Gerold Huber, einer Laudatio von Peter Schreier und einem – zu seinem freundlichen Entsetzen – aufgeführten Satz aus seinem in der Jugend komponierten Streichquartett ehren.
Sawallisch ist zweifellos einer der prägenden Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Seine Karriere begann er mit 24 Jahren in Augsburg, und schon bald folgten Chefpositionen in Aachen, Wiesbaden, Köln und Hamburg. Lange Jahre leitete er als Chefdirigent die Wiener Symphoniker und das Orchestre de la Suisse Romande. Seit den sechziger Jahren verband ihn eine enge musikalische Partnerschaft mit dem NHK-Symphonieorchester in Tokio, dessen Ehrendirigent er 1967 wurde. Alljährlich reiste er nach Japan, zu dem er eine tiefe Affinität empfand und wo er bis heute eine Legende ist. Wolfgang Sawallisch war ein überzeugter Münchener. Wollte man ihn als Bayern bezeichnen, lehnte er das jedoch unwirsch ab, und es war ihm sehr wichtig, als Protestant eine gewisse Distanz zum katholischen Bayern zu wahren. Seine Heimatstadt München und deren Oper blieben immer das erklärte Ziel seiner musikalischen Wünsche, aber einen frühen Ruf an die Bayerische Staatsoper lehnte er ab, weil er sich noch nicht reif genug für dieses Amt fühlte. Erst nach dem Tode Joseph Keilberths nahm er den Ruf ans Nationaltheater an, wo er 21 Jahre – von 1971 bis 1992 – wirkte und eine der denkwürdigsten Epochen in der Geschichte der Bayerischen Staatsoper prägte. Vor allem seine Aufführungen des Gesamtwerks von Richard Wagner und Richard Strauss sind unvergessen.
In dieser Zeit habe ich öffentlich und privat zahllose Gespräche mit ihm geführt und immer wieder erleben können, wie plötzlich hinter der offiziösen Maske, die er für die Öffentlichkeit meist trug, ein Mensch von schlagfertigem Witz und fabelhafter histrionischer Begabung hervortrat. Ob es August Everding oder – in einem hinreißenden Phantasiechinesisch – eine Marktfrau in Peking war, er verstand es, Menschen zu imitieren, wie ich es selten erlebt habe. Sawallisch konnte unerhört charmant und liebenswürdig sein, aber auch sehr bockig und fast grob, wenn ihm etwas nicht paßte. Was er vor allem nicht leiden konnte – und das gehörte zu seinen schönsten und bei Musikern sehr unüblichen Tugenden –, war die Polemik gegen andere Musiker, zumal Dirigenten. Dann konnte er auffahren: »So darf man über einen so ausgezeichneten Musiker nicht reden!« Neid auf andere Dirigenten habe ich bei ihm nie erlebt. Und so konnte er Carlos Kleiber so viele Jahre an die Münchner Oper binden, wobei es ihm wenig auszumachen schien – jedenfalls zeigte er es nicht –, daß die Herzen der Münchner Musikfreunde Kleiber mehr zuflogen als ihm. Vielen gilt er bis heute als musikalischer Biedermann, weil er in seiner werkzentrierten Kapellmeisterhaltung bewußt alle Exzentrizitäten in Musik und Leben mied. Aber eben deshalb wurde man ihn auch nie leid, konnte seinen Interpretationen über Jahrzehnte mit der gleichen Sympathie und Überzeugung folgen. Und so stehen etwa seine »Figaro«-Dirigate mit Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey, Margaret Price und Lucia Popp in der unvergleichlichen Rennert-Inszenierung als immer noch leuchtende Sterne an unserem Erinnerungshimmel.
Seine beachtlichen Entertainerqualitäten konnte er in Deutschland nie recht ausleben – hier blieb er in der Öffentlichkeit immer recht zugeknöpft –, aber als er nach unerquicklichen Querelen 1992 die Bayerische Staatsoper verließ und seine musikalische Tätigkeit mit der Leitung des Philadelphia Orchestra krönte, kam sie – bezeichnenderweise in der fremden Sprache – voll zum Durchbruch. Auch in Philadelphia, wo er zusammen mit seiner Frau den Bau eines neuen Konzertsaals entscheidend förderte, ist er bis heute eine Legende. Nicht zuletzt seine Begleitveranstaltungen zu bevorstehenden Produktionen oder das legendäre Konzert, als wegen eines Schneesturms das Orchester nicht rechtzeitig eintraf und er sich spontan entschloß, das ganze Konzert inklusive des ersten »Walküre«-Akts vom Klavier aus zu arrangieren – sind bis heute in Philadelphia im Munde der Musikfreunde. Doch nicht nur an den Dirigenten, sondern auch an den Pianisten Sawallisch ist zu erinnern. Er war einer der hervorragendsten Liedbegleiter seiner Zeit. Vor allem Dietrich Fischer-Dieskau – ich habe es aus seinem eigenen Munde – wußte ihn nicht genug zu rühmen, und ebenso Elisabeth Schwarzkopf, seine beiden wohl engsten Partner und Freunde auf dem Gebiet des Gesangs. Zum Größten, was man in München in den letzten Jahrzehnten kammermusikalisch erleben konnte, gehörte die Richard Strauss-Liedwerkstatt, die Sawallisch mit der Richard Strauss-Gesellschaft über Jahre hinweg mit verschiedenen Sängern veranstaltete und welche die experimentellen Züge des Lied-Oeuvres von Strauss bedeutend demonstrierte. Als Sawallisch sich im Silvesterkonzert 1992 von seinem Münchner Opernpublikum verabschiedete, war das zugleich der letzte Auftritt von Lucia Popp, und Dietrich Fischer-Dieskau beschloß bei diesem Konzert, seine Sängerkarriere zu beenden. Eine große Epoche der Münchner Musikgeschichte ging an diesem Abend zu Ende.
Dieter Borchmeyer