Bereits als junger Künstler, mit 23 Jahren, hat Harun Farocki öffentliche Aufmerksamkeit mit seiner Programmatik erregt, nämlich dem kinematographischen Ruf nach Realität. Beim berühmten und einflußreichen 4. Internationalen Experimentalfilm-Festival 1967/1968 in Knokke nahm er mit Jean-Jacques Lebel, Yoko Ono und anderen an der Parodie einer Misswahl teil. Die Jurymitglieder standen bis auf ein Nummernschild an der Hüfte nackt auf der Bühne. Farocki schrie mit einem Transparent gegen den Vietnamkrieg in der Hand: »Réalité!« und forderte damit in der Tradition eines Chris Marker oder Joris Ivens einen Film, der sich mit realen, politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Problemen beschäftigt.
Sein erster bekannter Film, NICHT löschbares Feuer (1968/69), zeigt die Methode, mit der Farocki im Film die Realität einforderte: Er, der Erzähler, erklärt, daß er kein Bild von Napalm-Verletzungen zeigen kann, denn dann würde der Zuschauer die Augen vor den Bildern, der Erinnerung, den Tatsachen und den Zusammenhängen verschließen. Als Filmemacher könne er nur eine schwache Vorstellung davon geben, wie Napalm wirkt, um aber eine Idee von der Realität zu geben, drückt er sich eine brennende Zigarette auf dem Handrücken aus, und eine Stimme erklärt aus dem Off, daß Napalm bei ca. 4000 Grad brennt, eine Zigarette bei ca. 500 Grad.
Farocki hat mit seinen Bildern die Wirkung der Bilder in der Massengesellschaft, von der Konsum- bis zur Militärindustrie, untersucht. Er zeigte nicht nur den Krieg der Bilder, sondern erklärte in zahlreichen Found-Footage-Filmen, in Montagefilmen aus vorgefundenen Werbe-, Industrie- und Schulungsfilmen gepaart mit eigenen Dokumentationen und Interviews etc., den Bildern den Krieg und damit der Gesellschaft.
Mit Agitationsfilmen wie Zwischen zwei Kriegen (1978) und Etwas wird sichtbar (1982), Dokumentationsfilmen wie Die Schulung (1987) oder Die Umschulung (1994) und Found-Footage-Filmen wie Gefängnisbilder (2000) schuf Farocki richtungsweisende Arbeiten zur politischen Ökonomie und Politik der Bilder. In Videogramme einer Revolution (1992, gemeinsam mit Andrei Ujica) decken die beiden Filmemacher die Manipulationen des Fernsehens über die Geschehnisse in Rumänien am Ende der Ceauşescu-Diktatur auf, indem sie Bilder des Freien Rumänischen Fernsehens, das den Staatssender besetzt hatte und in dem zur Revolution aufgerufen wurde, zeigten. Ihnen stellten sie Bilder gegenüber von Amateurfilmern. Damit deckten sie auf, wie sehr die historische Wahrheit über diese Revolution, die »live« im Fernsehen übertragen wurde, gerade durch das Fernsehen manipuliert wurde. Einerseits löste es die Revolution mit aus, andererseits lancierte es in den folgenden Tagen Verschwörungstheorien und Berichte über Massenhinrichtungen mit Opferzahlen, die sich später als falsch herausstellten.
Die Militarisierung der Gesellschaft über die Medien, ein zentrales Thema der Filmgeschichte, hat er ins Zentrum seiner Filme gestellt. Zuerst im Fernsehen, weil es im kommerziellen Kino nicht mehr möglich war, die Realität zu zeigen. Als auch das Fernsehen nur noch die Unterhaltung als Politik, die Unterhaltungsmaschine als Kriegsmaschine, zuließ, mußte er ins Museum auswandern. So ging Farocki gewissermaßen als Experimentalfilmer ins Exil des Fernsehens und später auch in das des Museums, wo er mit Mehrfachprojektionen Bilder in Dialog setzte. In der Videoinstallation Schnittstelle (1995), die er für die Ausstellung Nach der Fotografie im Musée d’art moderne in Lille entwickelte, hinterfragt Farocki die Linearität des Films. Auf zwei Monitoren zeigt er Ausschnitte aus seinen alten Filmen. Dabei scheinen die Bilder jeweils aufeinander zu antworten. Diesen Einsatz von Multiperspektivität und multiplen Projektions- oder Bildschirmen verfolgte er auch in der Arbeit Auge / Maschine I, II, III, einer Dreifachprojektion aus den Jahren 2000 bis 2003. Er zeigt darin, wie die militärische Bildverarbeitung funktioniert, indem er reale Bilder und deren Verarbeitung nebeneinanderstellt. Militärische Werbevideos, Flugsimulationen, Montageroboter, elektronische Überwachungsbilder, Drohnen und Lenkflugkörper machen deutlich, wie die Kriegsindustrie nicht nur die Handarbeit, sondern auch die »Augenarbeit« abschafft. Farocki belegt damit die These von der »Sehmaschine«, die Paul Virilio formulierte. Mit der Medieninstallation Deep Play (2007), in der er den Fernsehbildern des Fußball-World-Cup-Finales in Berlin simulierte, mathematische Spielanalysen gegenüberstellt, nahm er an der documenta 12 teil. Sein Weg vom Dokumentationsfilm bis zur Filminstallation ist exemplarisch für die Filmkunst heute.
Harun Farocki (*1944) verstarb am 30. Juli 2014 in Berlin. Er galt als einer der bekanntesten Filmemacher Deutschlands und war einer der wichtigsten Begründer des Essayfilms. Seit 2009 war er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.
Peter Weibel