Aquarellierte und gezeichnete „Tagebuchblätter“, individuell gestaltete Postkarten, die über Jahrzehnte hinweg einem großen Kreis von Korrespondenten zugesandt wurden, und nicht zuletzt die übermalten und konturierten Handy-Fotos seiner Freunde, Förderer und Sammler bilden einen substantiellen Teil des bildnerischen Werks von Siegfried Kaden. Der „unbehauste Künstler“ – so sah er sich auch selbst –, der häufig zwischen München, Stuttgart, Berlin, Leipzig, Mallorca und Havanna unterwegs war und dem immer schneller rotierenden Kunstmarkt skeptisch gegenüberstand, war zugleich ein Genie der Kommunikation. Nicht in den „sozialen Medien“, sondern ganz altmodisch mit Feder, Tusche, Papier und Briefmarken. Schon 1976 fand in der Münchner Galerie von Otto van de Loo eine erste Ausstellung mit „Tagebuchblättern“ statt.
Der am 29. März 1944 in Dresden geborene Kaden gehört zu den bedeutenden deutschen Malern, Zeichnern, Buchillustratoren und Konzeptkünstlern seiner Generation. Nach einer trotz aller Unbilden der Zeit behüteten Kindheit „entführten“ ihn seine Eltern mit sieben Jahren (1951) in die Bundesrepublik. In einem Internat in Feldafing erlebte er Freundschaft und humanistische Bildung, aber auch Willkür, autoritäre Erziehung und mangelnde Rückzugsräume. Ungeachtet dessen, dass sein Vater ihm eine „sichere Laufbahn“ dringend nahelegte, studierte Kaden an der Universität Stuttgart Kunstgeschichte (1968–1974), absolvierte eine Ausbildung zum Kunstpädagogen an der Stuttgarter Kunstakademie (1969–1974) und setzte seine Studien in der Klasse von Rudolf Hausner an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Wien fort. Das Werk dieses Meisters des „Phantastischen Realismus“ hinterließ, weniger stilistisch als durch seine deutliche Absage an die Abstraktion, Spuren in den Bilderzählungen von Siegfried Kaden. Nach einem Intermezzo als Kunstlehrer an verschiedenen bayerischen Gymnasien etablierte er sich in München als freischaffender Künstler und gehörte dort zu den „Jungen Wilden“, ohne sich einer Künstlergruppe anzuschließen. Er blieb ein Einzelgänger und Einzelkämpfer. Seine Arbeiten aus dieser Zeit beziehen sich durch ihre postexpressionistische Handschrift einerseits auf das Erbe der klassischen Moderne, andererseits sind sie aus einer Rebellion gegen diese längst kanonisierte Moderne geschaffen worden. Eine eminent politische und sozial engagierte Haltung haben viele seiner seit den 1980er Jahren entstandenen Werke geprägt, ohne dass er seine hohen ästhetischen Maßstäbe zugunsten einer agitatorischen „l’art engagé“ aufgegeben hätte. Seine antimilitaristischen „Kriegsspiele“, Installationen mit absurden Bleiflugzeugen aus den frühen 1990er Jahren, zeugen davon.
Seit Mitte der 1990er Jahre lebte Siegfried Kaden, getrieben vom Bedürfnis, „noch einmal von vorn anzufangen“ (S. Kaden), vorwiegend in Havanna, lehrte dort als Gastprofessor an der Kunstakademie ISA (1997) und der Kunstakademie San Alejandro (2000–2003) und tauchte ein in das schwierige, entbehrungsreiche und widersprüchliche Leben auf der Karibikinsel. Seit Ende der 1990er Jahre agierte er zunehmend als Brückenbauer zwischen der kubanischen und der deutschen Kunstszene, kuratierte und organisierte in ganz Deutschland Ausstellungen für die junge, nonkonformistische Kunstszene in Kuba und ermöglichte es so, jungen kubanischen Künstlerinnen und Künstlern ihre Arbeiten außerhalb des kontrollierten und regulierten Systems zu zeigen. Zugleich wurden die trotzige Beharrung und Lebensbewältigung der Kubaner für Siegfried Kaden zu einer beständigen Quelle eigener schöpferischer Arbeit.
Eine Vielzahl von Bildern, Aquarellen und Zeichnungen entstanden, die nicht fabulieren und doch auf subtile Weise vom Leben in der Karibik erzählen. Was spielerisch anmutet, ist das Ergebnis großer zeichnerischer Konzentration und Auslese. Die Reduktion auf Wesentliches lässt die Exotik der Motive in den Hintergrund treten. Sie werden entweder ironisch gebrochen oder auf eine nur scheinbar naive, nicht psychologisierende Weise ernst genommen. Längst war Kadens Blick nicht mehr der eines Fremden, der den Blick auf die exotischen Sujets nur benutzt und collagiert.
Eine besondere Bedeutung in Kadens Schaffen besitzt der von 1998 bis 1999 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung erschienene Bildroman Stille Tage in Havanna mit einem Text von Johannes Willms. „Es gibt Orte, an denen auch die fragwürdigste Metapher einen Sinn erhält“, schrieb Willms. Havanna zählt zu diesen Orten.
Aus Kadens intensiver Begegnung mit kubanischen Autoren entstand 2017 eine Serie gemalter und gezeichneter Porträts unter dem Motto Leer (Lesen), die in der kubanischen Nationalbibliothek in Havanna und ausschnittsweise in München gezeigt wurde. Zwei Jahre später konnte er in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste eine kleine Retrospektive seines Werks präsentieren.
Der Beginn der Corona-Pandemie fiel zusammen mit einer schweren Krebserkrankung, die Kaden in Havanna in eine doppelte Isolation zwang. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse entstand die Serie Cuba – mi amor, eine Bilderfolge von großer ästhetischer Kraft und existentieller Wucht, die zu einem Lebensanker wurde. Mit einem der wenigen Flugzeuge konnte er Kuba verlassen, um sich in München behandeln zu lassen. In München arbeitete er, schwer von der Krankheit gezeichnet, unbeirrt weiter an seiner reich illustrierten „Autobiographie“, die sein stetes Interesse an anderen Menschen, anderen Kulturen und Denkweisen widerspiegelt, bis ihn am 20. November 2021 die Lebenskraft verließ. „In Siegfried Kaden habe ich einen langjährigen, sehr verlässlichen Freund und solidarischen Künstlerkollegen verloren. Seine Kommentare werden mir fehlen“, schrieb Klaus Staeck nach dem Tod seines jahrzehntelangen Weggefährten. Die Mitglieder der Akademie werden die Erinnerung an diesen streitbaren, originellen, für die Freundschaft begabten Künstler lebendig halten.
Andreas Kühne