Abteilung Literatur: Tankred Dorst – Ordentliches Mitglied seit 1965
geb. 19. Dezember 1925 in Oberlind, Thüringen – gest. 1. Juni 2017 in Berlin
Wir haben uns hier versammelt, um Abschied zu nehmen von unserem Freund Tankred Dorst. Wollten alle Personen, die der Bühnendichter Tankred in seinem langen Schriftstellerleben erfunden hat, mit uns an dieser Trauerfeier teilnehmen, die Kirche hätte ihnen nicht Platz bieten können. Merlin und sein Troß, Ernst Toller und die Revolutionäre, Herr Korbes oder der alte, verbitterte Hamsun, der die Welt nicht mehr versteht, sie alle müssen in unserem unsicheren Gedächtnis Platz nehmen, um anwesend zu sein. Hauptsache, sie sind noch da. Da das deutsche Theater den meisten von ihnen keinen Platz mehr anbietet, sind sie vielleicht froh, wenigstens in unseren Köpfen einen festen Ort zu haben. In unseren Köpfen gelten andere Spielpläne. In unseren Köpfen können wir Tankreds Stücke weiterhin mit Peter Lühr, Gisela Stein oder Thomas Holtzmann besetzen, ganz wie es uns gefällt.
Und würden alle Schauspieler, Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner und die anderen Bühnenmenschen, die je Tankreds Stücke mit Leben erfüllt haben, in Deutschland und in der ganzen Welt, die Lebenden und die Toten zusammenkommen, um diesem alles andere als angeberisch um die Gunst von vielen buhlenden Menschen Lebewohl zu sagen, wir hätten leicht ein Stadion füllen können.
Mehr als fünfzig Theaterstücke hat Tankred geschrieben, dazu Hörspiele, Libretti, Drehbücher und Übersetzungen. Wenn man sich diese Zahl vergegenwärtigt und sich die Werkausgabe dazu vorstellt, in der ja auch noch die Prosa, die Reden, die Nachworte ihren Ort haben müßten, könnte man auf die Idee kommen, Tankred hätte das Leben eines abgehobenen, hoch dekorierten Großschriftstellers geführt, aber nicht gelebt. Aber jeder, der diesen einzigartigen Menschen kannte, weiß aus gelebter Erfahrung, daß das Gegenteil der Fall war: Tankred – und wenn ich Tankred sage, meine ich immer, in einem Wort gedacht und geschrieben: TankredundUrsula ‒, Tankred war der privateste, in Anführungsstrichen normalste Mensch unter den, durchaus auch aus beruflichen Gründen, zur Exaltation, zur Exzentrik, zur Egomanie und zum Größenwahn neigenden Kollegen. Er hat es nicht geliebt, in den Vordergrund zu treten. Gewiß kannte er sein Talent, seine Stärken oder Vorzüge, aber ebenso waren ihm Skepsis, nagender Zweifel und Unsicherheit vertraut. Die Bretter, die für ihn die Welt bedeuteten, waren alles andere als fest und schwindelfrei.
Wenn er, nach der Premiere eines seiner Stücke, sich Hand in Hand mit den Schauspielern auf der Bühne verbeugte, schien er sich bei dem anschwellenden Beifall zu wundern, daß überhaupt jemand gekommen war. Er war die ideale Besetzung für die Rolle des Autors, der sich verbeugt. Ich möchte wetten, daß er bei dieser heiligen Zeremonie des Theaters das Wörtchen »kurios« gemurmelt hat. Kurios war eines von Tankreds Lieblingswörtern.
Es hat viele Versuche gegeben, die Erfolge und Zumutungen der Nachkriegszeit, wie sie ganz besondere im Theater dieser Zeit zur Sprache und oft überhaupt erst zur Sichtbarkeit gekommen sind, in West und in Ost, zu beschreiben, aber es blieb Tankred vorbehalten, sie als kurios zu bezeichnen. Die menschliche Tragödie, die oft nur als Komödie zu ertragen ist, all die schönen, erhabenen oder pathetischen Endspiele, die unter dem Zeichen des Wartens und des Aufschubs auf die Bühne kamen, immer versah sie Tankred mit der Fußnote kurios. Kurios war alles, was der Fall ist, nur dumm, vulgär oder borniert durfte es nicht sein.
Tankreds Mißtrauen, ja herzliche Abneigung gegen jede Art von Geschichtsphilosophie, die dem Menschen in seiner Not etwas verspricht, um ihn bei der Stange zu halten, es aber nicht erfüllen kann, hat ihren Grund vielleicht darin, daß er als junger Mann, als Schüler aus einer thüringischen Kleinstadt, erst zum Reichsarbeitsdienst und dann zur Wehrmacht eingezogen wurde, wie der Ausdruck euphemistisch heißt, um mit der Waffe in der Hand das, was Hitler ständig als Vaterland im Mund führte, an der Westfront zu verteidigen.
Seine kurze, unfreiwillige militärische Karriere endete gottlob in einem alliierten Gefangenenlager, aber er hatte doch am eigenen Leib und an der Seele erfahren, was es heißt, ohne jede Chance zur Gegenwehr eingezogen oder für fremde Zwecke mißbraucht zu werden. Das Gute an dieser Zwangsrekrutierung war die Stärkung von Tankreds Immunsystem. Ich habe nur wenige Menschen getroffen, die sich so halsstarrig gegen fremde Einflüsterungen sträubten wie Tankred. Ich vermute, daß selbst seine von ihm heiß geliebte Ursula gelegentlich an diesem geradezu militanten Eigensinn gescheitert ist.
Tankred hat nicht oft und wahrscheinlich auch nicht gerne über die Kriegszeit gesprochen, aber wenn, dann stelle ich mir immer vor, wie ein Stahlhelm wohl auf seine dicken widerspenstigen Haare gepaßt hat. Diese unglaublichen Haare!
Manchmal, wenn er einen Gedanken, der ihm durch seinen großen, schönen Kopf schwirrte, nicht zu Fassen kriegte, griff er mit beiden Händen in diesen wuchernden Kopfschutz und zerrte und riß daran. Die Haare waren, noch einmal: gottlob!, stärker. Mit den Jahren wurden sie zu einer Krone. König Tankred mit der grauen Haarkrone, so wird er, auch wenn es kitschig klingt, in meiner Erinnerung als festes Bild bleiben.
Tankred selber war alles andere als kitschig; seine Menschenforschung war ihm zu ernst, um den Kitsch, der es sich einfach macht, zuzulassen. Selbst der Sonnenuntergang, der sich in unserer mehr als zwanzigjährigen Wohngemeinschaft am Ostufer des Starnberger Sees alle Mühe gab, uns zu Ausrufen des kitschigen Entzückens zu zwingen, fand in ihm nur einen stummen Bewunderer. Allenfalls: großartig!
Einmal besuchte ihn – und damit uns, die wir uns ein heiß begehrtes Haus mit Seegrundstück teilten – sein ungarischer Übersetzer Imre Kertész, von dem wir damals nicht wußten, daß er nicht nur Übersetzer von Nietzsche und Tankred war, um das Mindeste zu sagen. Imre war ein entsetzlich schlechter Schwimmer, und ich war froh, ihn wieder heil an Land gebracht zu haben. Tankreds Kommentar, der vom Ufer aus unsere waghalsige Exkursion beobachtet hatte und vor dem wir nun tropfnaß im Gegenlicht der gleißend untergehenden Sonne standen. Schade, daß man dieses Bild nicht auf die Bühne bringen kann.
Er dachte in Bildern.
In seinem riesigen Apothekerschrank in der Schwabinger Wohnung hatte er sie gesammelt, für später. Ich weiß nicht, wo der Schrank abgeblieben ist. Wer ihn findet, soll sein Ohr daran halten, dann wird er die Bilder sprechen hören. Tankred kannte keinen Neid. Da alle in unserem Haus am See etwas mit Literatur zu tun hatten und die meisten Menschen, die uns besuchten, ebenso, blieb es nicht aus, daß über die zufällig nicht anwesenden Schriftsteller und Theaterleute und deren Erfolge und Mißerfolge geredet wurde, darüber, wer welchen Preis zu Recht oder häufiger natürlich zu Unrecht erhalten hatte. Tankreds Beitrag zu solchen Gesprächen erschöpfte sich in der Regel in der Frage: „Findest du das gut?“ Nicht einmal ein etwa kam über seine Lippen. Er hatte kein Talent für Neid, und für Haß sowieso nicht. Die ärgste Beschimpfung eines anderen Schriftstellers, die ich aus seinem Mund hörte, lautete: „Ich glaube, der gibt ein wenig zu sehr an.“
Dafür konnte er wunderbar loben. Natürlich auf seine diskrete, allerdings selbstbewußte Art. Wenn eine Aufführung eines Kollegen besonders heftig zerrissen wurde, verteidigte er klug dessen Stärken, besonders die Schauspieler lagen ihm am Herzen. Seine Liebe zu Kritikern dagegen hielt sich in Grenzen. Der besserwisserische Gestus war ihm vollkommen fremd.
Tankred war, im Gegensatz zu uns anderen Hausbewohnern, kein besonders exzessiver Zeitungsleser, trotzdem wußte er über fast alles Bescheid. Er ließ sich gerne berichten.
Einer unserer Freunde, Wolfgang Ebert, Kolumnist bei der Zeit, war ein begeisterter Überbringer schlechter Nachrichten. Er hatte, wenn er am Wochenende zu Besuch kam, eine Basttasche voller ausgerissener Zeitungsartikel dabei, die zweifelsfrei die Schlechtigkeit der Welt bezeugten. Tankred hörte belustigt zu. Wenn Wolfgang am Abend verschwand, fragte Tankred in seinem unnachahmlichen, sachlich-ironischen Tonfall: „Gibt es die Welt eigentlich noch oder ist sie schon vernichtet worden?“
Es gab sie noch, also konnten wir in Ruhe eine Zigarette rauchen. Wie Zeno Cosini, mit dem uns unser Freund Claudio Magris, der übrigens die erste große Studie über Tankred veröffentlichte, bekannt gemacht hat, wie Zeno Cosini wollten Tankred und Ursula einmal in der Woche das Rauchen aufgeben. Eine noch. Es spricht für die große Liebe zwischen Tankred und Ursula, daß sie die jeweils letzte Zigarette teilten. Und weil es immer die letzte war, wurde sie bis zum Filter abgeraucht. Wir andern hatten es leichter.
Charlotte, die Übersetzerin, die unterm Dach lebte, zog sich mit ihrem Päckchen zurück, Tilman, der unten wohnte, griff zur Pfeife, um die Lunge zu schonen, und ich hatte, auf demselben Stockwerk wie Tankred und Ursula, den Balkon zur Verfügung, um den Rauch der wirklich allerletzten Zigarette über den See zu schicken.
Wenn uns unser brummiger Vermieter nicht unter der falschen Vorspiegelung von Eigenbedarf aus dem Haus geklagt hätte, würden wir vielleicht heute noch in diesem produktiven Refugium leben. Eigentlich war es das Haus von Tankred und Ursula, sie hatten es gefunden und uns eingeladen, es mit ihnen zu teilen.
In den zwei Zimmern im ersten Stock, in denen sie sich mit ihren Büchern und ihrer Musik eingerichtet hatten, ist ein großer Teil des Werks entstanden. Wenn ich morgens mein Zimmer verließ, um über die knarrenden Dielen nach unten in die Küche zu gehen, waren Tankred und Ursula schon bei der Arbeit. Dann konnte man durch die Tür hören, wie Ursula sagte: „Naa, der spricht doch net so!“ Und Tankreds Antwort: „Doch, der muß so sprechen!, immer begleitet von einem kurzen trockenen Lachen.“
Mit dem alten Hamsun der Eiszeit beginnt Tankreds Erforschung der sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen des Bösen, dargestellt an einer beeindruckenden Reihe von alten Männern, die sich mit Ingrimm und einem eigentümlichen Hang zur Selbstzerstörung über die weite Bühne des Lebens bewegen, als wollten sie sich an der Natur, die sie so und nicht anders konditioniert hat, rächen. An der Kultur sowieso. Sie bilden einen krächzenden Chor der Verneinung, der insistent und dunkel dem hellen Lied der Vernunft unterlegt ist. »Wie leicht fällt es uns, Aufklärung zu liefern« – schreibt Tankred ‒ »wir sind es in langer Übung gewohnt. Sie erspart uns Schrecken, Erschütterung.«
Wenn man heute an unserem ehemaligen Haus vorbeigeht, das immer noch leer steht, als gäbe es einen Eigenbedarf an Leere, hört man die alten Zausel hinter den heruntergelassenen Jalousien streiten und greinen. Korbes, der von Gott verlassene Stoff der Welt; d‘Annunzio, der sich durch schwülstige Anbetung der Schönheit vergeblich Unsterblichkeit erhofft hat; Kupsch, der sein in ihm wachsendes alter ego zu ermorden versucht; Herr Paul, Inbegriff des Scheiterns; der arme Feuerbach, der aus dem Narrenspital zum Vorsprechen auf dem Theater kommt; Eisenhans, ein homme sauvage, der seiner eigenen Tochter verfällt; Karlos, der sich auf Gottes Stuhl setzt und hinunterpurzelt – lauter gefallene Engel, die Tankred sogar einmal in einem von ihm vorgeschlagenen Museum des Bösen unterbringen wollte. Und in der Mitte Merlin, »der der Sohn des Teufels ist«, wie Tankred sagt, »wie Christus der Sohn Gottes ist. So wie Christus die Menschen im christlichen Sinne erlösen will, soll Merlin, der Sohn des Teufels, die Menschen zum Bösen führen, eine andere Art von Erlösung«.
Mit dieser Aktualisierung des Mythos hatten Tankred und Ursula ihren größten Erfolg. Darauf angesprochen, hätte Tankred sicher gesagt: „Ja, kurios, aber in diesen Geschichten steckt eben mehr drin als wir wahrhaben wollen.“
In dem anderen, zweiten Zimmer unseres Hauses sind etwas hellere Stimmen eingesperrt, die von Dorothea Merz oder Klaras Mutter oder die der nicht mehr ganz jungen Irene, die mit den anderen den Chimborazo besteigen will, lauter Frauen diesmal, die für einem kurzen Moment aus dem dichten Schatten der deutschen Geschichte treten, etwas verdutzt dreinschauen, weil sie noch am Leben sind, aber doch vom deutschen Unglück affiziert, überschattet von Schwermut und Müdigkeit. Während die alten Männer um den Zauberer Merlin mehr oder weniger der Imagination entsprungen sind, gehören die Frauen zu Tankreds Familie, zur Familie der »Maschinenfabrik vormals Georg Dorst« in Sonneberg. Aus der Gefangenschaft zurück – nicht heimgekehrt –, ist Tankred seinen eigenen Weg gegangen, der im Marionettenstudio »Das kleine Spiel« begann.
War die Arbeit an einem neuen Stück getan, ging Tankred in unseren großen Garten und legte sich in einen Liegestuhl, schlug den linken Arm über die Augen und träumte. Da lag er dann wie eine Tschechow-Figur in seinem Birkengarten und schien, äußerlich betrachtet, zufrieden. Was denkt er wohl jetzt, dachte ich, wenn ich den großen Mann da so liegen sah. Bestimmt nicht nur Gutes, das war gewiß! Setzte ich mich zu ihm und fragte ihn, sagte er: „Ach, Michel, die Welt ist schlecht!“ Aber bevor ich ihm beherzt zustimmen konnte, kam schnell der Nachsatz: „Aber das ist kein Grund, auf der Stelle zu verzweifeln!“
Und irgendwann kam Ursula mit Kaffee und Kuchen, um jeden Anflug von Melancholie zu vertreiben, oder sie rief vom Balkon runter: „Tankred, wir müssen los!“ Dann fuhren sie im Auftrag der Bonner Biennale oder Neue Stücke aus Europa durch die Welt, um ihrer zweitschönsten Beschäftigung nachzugehen, dem Anschauen von Theaterstücken, am liebsten in Sprachen, von denen man noch nie gehörte hatte. Ich selber habe diese Stücke nie gesehen, aber viel besser und interessanter als die Erzählungen über die abenteuerlichen Reisen, die zu den Stücken geführt haben, können sie auch nicht gewesen sein. Verspätete Flugzeuge, drohende Abstürze, seltsame Hotels und eigenartige Menschen, die noch eigenartigere Speisen verzehrten: wunderbare Theaterstücke für zwei Personen, die sich gerne unterbrachen oder ins Wort fielen, um die Spannung anzuheizen. Auch das Bayreuther Abendteuer kenne ich nur aus dieser Perspektive des Daneben und Danach, und ich muß gestehen, daß ich selten einen komischeren Ring gesehen und gehört habe.
Hier in Berlin begann, lange vor unserer Freundschaft, meine Reise mit Tankred. Sie begann mit dem Satz: »Warum sagt ihr mir nicht, warum es in der ganzen Welt so stinkt?« Das waren die ersten Dorst-Worte, die ich zu hören bekam, im Januar 1962 in der Werkstatt des Schiller Theaters. Gisela Stein hatte sie gesprochen, nein: herausgeschleudert, mit einem mächtigen Pathos aus der Tiefe ihres zarten Körpers gegrollt. Das war natürlich vor dem Mauerbau geschrieben, entfaltete aber danach seine entsetzliche Wahrheit. Das war vor fünfundfünfzig Jahren, eine lange Reise.
Liebe Ursula, Tankred fehlt uns allen, die wir uns hier versammelt haben, um von ihm Abschied zu nehmen. Dir fehlt er am meisten, das wissen alle, die euch zusammen erlebt haben. Einen Trost gibt es nicht, wir können Dir nur beistehen, von Herzen und dennoch hilflos.
Also sage ich zum Schluß die Worte, die Tankred immer gesagt hat, wenn er sich verabschiedet hat. Er sagte nicht Auf Wiedersehen oder Tschüs, sondern immer: „Leb‘ wohl.“ Leb‘ wohl, lieber Tankred, und vergiß uns nicht, wir werden dich sowieso nicht vergessen.
Michael Krüger