Marino 5. November 2012
Was will der Komponist – wovon träumt er? Ist es sein Wunsch, die Kunst neu zu erfinden, die Welt zu verändern, mit Meisterwerken unsterblich zu werden? Sind das die Träume, für die ein Komponist leben will? Hans Werner Henze hat eine andere Antwort gegeben, als er bekannte: »Meine eigene Musik hat die größte Absicht zu wirken, mitten in die Herzen der Menschen hinein«.
Ein Bekenntnis, das nicht sentimental klang und keinesfalls unzeitgemäß, wenn er es aussprach. Und das ihn nicht von ungefähr gerade mit den Komponisten der Vergangenheit verband, die sich in großen, gemeinschaftlichen, weltumgreifenden Formen mitteilten: von Monteverdi über Mozart, Beethoven und Verdi bis zu Gustav Mahler. Hans Werner Henze war einer von ihnen, ein Menschenfreund und Weltenbeweger. Ein Musiker des Diesseits, ein Zeitgenosse ohne Berührungsängste, leidenschaftlich entflammt für alles, was er begann. Und was mitten ins Herz zielte.
Ich habe ihn kennengelernt im denkwürdigen Jahr 1968, als in Hamburg sein Oratorium »Das Floß der Medusa« nicht uraufgeführt wurde. Wenige Monate später war ich sein Schüler, hier in diesen Räumen, aber der Unterricht glich mehr einer Unterweisung, einer weitreichenden Anregung zu allen brennenden Fragen der Musik, der Gesellschaft, der Politik. Später wurde ich sein Nachfolger in München, bei der von ihm begründeten Biennale für neues Musiktheater. Ich folgte ihm nach, von ihm belehrt, gefördert und ermutigt – wie so viele junge und mittlerweile auch schon ältere Musiker, die seiner Freundschaft, seiner neidlosen Zuneigung, seinem Rat und seiner Tat mehr verdanken, als sie je erwidern konnten. Als Vorbild bleibt er ohnehin unerreichbar.
Hans Werner Henze war mit einer verschwenderischen Begabung gesegnet, in diesem Sinne maßlos als Künstler und als Mensch und deshalb niemals anfällig für Dogmatik oder Orthodoxie. Die Animositäten, die eine Zeitlang in der Neuen Musik zum guten Ton gehörten, kamen von anderen Seiten. Ihm war Rechthaberei und Gehässigkeit fremd, wesensfremd. Er besaß die Größe, auch Werke zu verstehen und zu loben, die von seinen grundverschieden waren. Auf das letzte Wort erhob er keinen Anspruch. Aber für einen so sprachgewaltigen und mitteilsamen Komponisten, einem Musiker mit ausgeprägt literarischer Phantasie, gab es das sowieso nicht: das letzte Wort. Er hatte immer noch etwas zu sagen, unerschöpflich, er war nicht am Ende, niemals. Und dies mag auch ein Grund sein, weshalb mir der heutige Tag wie ein Irrtum vorkommt, wie ein Mißverständnis. Es kann doch gar nicht wahr sein, daß sich Hans Werner Henze jetzt von uns verabschiedet und fortan in Schweigen hüllt. Es paßt einfach nicht zu ihm – zu sterben. Und es paßt nicht zu uns, auf ihn verzichten zu müssen.
Aber der Traum des Komponisten, seine größte Absicht, hatte sich ihm längst zu Lebzeiten erfüllt: mit seiner Musik die Herzen der Menschen zu berühren und, mehr noch, zu ergreifen und sogar noch mehr – zu verwandeln. Diese menschenfreundliche Kunst hört niemals auf, sie kann weder verschwinden noch verstummen. Und deshalb bleiben uns nicht nur die Erinnerungen an vergangene Begegnungen, Gespräche, Konzerte und Premieren, uns bleibt vor allem die Gegenwart seiner Musik und seiner Schriften, aus denen der Mensch noch immer zu uns spricht und die uns seine besten Eigenschaften bewahren: Großzügigkeit, Aufrichtigkeit, Mitgefühl und Solidarität, Humor und Selbstironie, Neugierde und eine mitreißende Daseinsfreude. Seine Musik erzählt Geschichten vom Menschen. Geschichten, die uns betreffen und betroffen machen. Nichts ist vergangen, nichts ist vergeblich. Hans Werner Henze hat keine »Lücke« hinterlassen, sondern ein reiches, erfülltes, überschwengliches Leben: ein Leben und ein Werk, von dem wir noch hören werden, solange unser Herz schlägt und die Musik unsere Träume beflügelt.
Peter Ruzicka