Poesie ist die Erfahrung dessen, was die Wörter überschreitet. Diese berühmt gewordene Feststellung von Yves Bonnefoy beschreibt kein Programm, sondern ist sein Verweis auf die radikale Subjektivität, mit der die Welt hinter den Dingen erfahrbar wird. Wie leben, wenn man nicht der Ursprung ist? heißt es in den 1977 unter dem Titel Rue Traversière erschienenen Aufzeichnungen. In ihnen bekennt er, daß seine Poesie nicht der Vorstellung vom gelungenen Werk verpflichtet ist, sondern sich aus dem Abbrechen, wortlosen Staunen, ja dem Zerstören vorangeschriebener Sätze ergibt und diesem Prozeß unerhörte Wörter, Bilder und Klänge ablauscht; sie verweisen auf eine Welt hinter der sichtbaren, auf einen lyrischenZustand des Ich, der anders sieht, anders hört als der lediglich seinen fünf Sinnen verpflichtete Mensch. Zugleich bildet Bonnefoys Lyrik in bis zur Kargheit verdichteten Bildern die schlichten, scheinbar nebensächlichen Dinge und alltäglichen Eindrücke ab – öffnet sie jedoch für eine Durchlässigkeit der Assoziation, gleichsam für ihre Traumseite, und stellt damit aus der lapidaren Welt eine weitere, eine poetische her.
Durch dieses ebenso strenge wie unübertragbare Verfahren entstand ein innerer Zusammenhang der Lyrikbände, ein Ahnungsgewebe aus wechselseitigen Verweisen, eine scheinbar sperrige, eigentlich aber schwebende Poesie.
Neben dem Poeten steht, nicht weniger wichtig, der Essayist: Aufsätze zur italienischen Kunst des Trecento und Quattrocento, Vorlesungen zur Poesie an europäischen und amerikanischen Universitäten und seine Übersetzungen von Shakespeare und W. B. Yeats, Reflexionen und Betrachtungen in Prosa. Mit den Gedichten bilden sie das Lebenswerk des bedeutendsten französischen Dichter seiner Generation, das in Deutschland nicht entsprechend gewürdigt worden wäre, hätte nicht sein Freund, der Übersetzer und Homme de Lettre Friedhelm Kemp es hierzulande bekannt gemacht. Kemp und dem Klett-Cotta-Verlag verdanken wir künstlerisch gestaltete Bände wie Im Trug der Schwelle, Was noch im Dunkel blieb, Die gebogenen Planken, in denen Kemps Meisterschaft der Übertragung lesbar wird. Hier, schrieb er selbst, bleibt dem Übersetzer nichts übrig, als Mitgänger, Mitfinder, Mitentdecker zu werden. Kemp auch war es, der Yves Bonnefoy 1977 in unsere Akademie einlud, wo er seither korrespondierendes Mitglied war.
Der 1923 in Tours geborene Bonnefoy war Sohn eines Arbeiters im Lokomotivenbau und einer Dorflehrerin, studierte Mathematik und Philosophie und schloß sich 1943 in Paris den Surrealisten an, von denen er sich vier Jahre später abwandte. Seine frühe Poesie war noch festem Versmaß verpflichtet, kannte auch Endreime, bevor er sich dann dem freien Vers und Gedichten in Prosa zuwandte. Seine späten Gedichte neigen wieder traditionellen Formen, liedhaften Versen, rhapsodischem Sprechen zu, das die Anwesenheit der Dinge beschwört. Sein auffällig oft wiederkehrender Begriff présence meint nicht allein Gegenwart. Man fragt mich manchmal, was ich unter »Präsenz« verstehe. Meine Antwort lautet: Präsenz fände dann statt, wenn nichts von dem, was uns begegnet, in der Tiefe dieses Augenblicks der Aufmerksamkeit unserer Sinne entzogen bliebe.
Bonnefoy, der seit 1981 Professor für vergleichende Literaturwissenschaft am Collège de France war, ist am 1. Juli 2016 in Paris gestorben.
Gert Heidenreich